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Rede des Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin Ralf Wieland zur Eröffnung der Ausstellung "Kinder im Versteck. Verfolgt. Untergetaucht. Gerettet?"

22.10.2013 17:00, Wandelhalle

"Eins zwei drei vier Eckstein, alles muss versteckt sein…", so lautet der Reim in einem alten Kinderspiel, bei dem sich die Kinder nur durch das Anschlagen einer bestimmten Stelle aus ihrem Versteck befreien können. Wer es nicht schafft, sich zu befreien, muss nun seinerseits die Rolle des Suchenden übernehmen. Es ist ein lustiges, ein schönes Spiel, das vielen Kindern  Spaß macht. Auch die ganz Kleinen lieben schon das Versteckspiel. Sie heben ihre Hände, verstecken ihr Gesicht dahinter und tauchen kurze Zeit danach wieder auf. Es ist ein Spiel in Sicherheit und Geborgenheit. Ein unbeschwertes Spiel voller Vertrauen und Zuversicht. Doch was bedeutet es, wenn aus einem Spiel bitterer Ernst wird? Wenn von einem „richtigen“  Versteck das eigene Leben abhängt? Wenn man sich nicht durch das „Anschlagen“ einer bestimmten Stelle wieder befeien kann? Wenn man ein Leben unter falscher Identität, mit falschem Namen und falschen Papieren führen muss? Ein Leben in Angst und Furcht. Angst entdeckt zu werden, Angst vor dem Verrat, der Verfolgung und der Auslieferung an ein verbrecherisches Regime, das die systematische Ermordung von Millionen Menschen betreibt und auch auch vor der Ermordung hilfloser Kinder keinen Halt macht? Wir alle kennen die Geschichte und das Schicksal der jungen Anne Frank. Auch sie gehörte zu den Jüdinnen und Juden, die mit ihrer Familie versuchten, sich in einem Versteck vor der Deportation in ein Konzentrationslager zu retten. 1942 tauchte die Familie Frank zusammen mit einer weiteren Familie in einem sorgfältig vorbereiteten Versteck in Amsterdam unter. Doch sie wurde entdeckt und 1944 mit dem letzten Transport aus Westerbork nach Auschwitz deportiert. Annes Mutter kam in Auschwitz um, Anne und ihre Schwester Margot wurden weiter nach Bergen-Belsen deportiert, wo sie im März 1945 an Typhus starben. Nur Annes Vater überlebte, er wurde am 27. Januar 1945 in Auschwitz befreit. Ihm ist es zu verdanken, dass Annes Leben im Versteck durch die Veröffentlichung ihres Tagebuch in aller Welt bekannt wurde. Als im Oktober 1941 die systematische Deportation in den Osten begann, war es Jüdinnen und Juden nicht mehr möglich aus Deutschland zu emigrieren. Flucht oder Selbstmord – darin sahen viele der Verfolgten die einzige Möglichkeit der Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten zu entkommen. Doch eine Flucht bedeutete auch, nicht mehr zu existieren, sich quasi in Luft aufzulösen. Hinzu kam, dass eine Flucht nur dann möglich war, wenn andere Menschen bereit waren ihnen zu helfen und  sie versorgten – mit Nahrung und anderen lebensnotwendigen Dingen. Wichtig war auch, dass diese Helfer furchtlos und verschwiegen waren, denn ein einziges unbedachtes Wort konnte viele Leben in Gefahr bringen. Nicht alle Helfer hatten den Mut und die Kraft durchzuhalten. Angst, Verzweiflung und Sorge um das eigene Leben oder das Leben der Familie bestimmten das Handeln der Einzelnen. Der Verrat oder das Preisgeben eines Versteckes gehörten dazu. Ohne Frage stellte eine Flucht mit Kindern ein besonderes Risiko dar. Sie durften niemandem ihre wahre Existenz offenbaren, denn versteckt zu leben, bedeutete oftmals die eigene Identiät abzulegen und eine anderes, ein fremdes Leben zu leben. Ein Leben mit falschen Papieren ging mit der Angst einher, von anderen erkannt und denunziert zu werden. Diese Art sich zu verstecken, stand in seiner Grausamkeit dem Leben im Verborgenen nicht nach. Auschwitz war das monströseste Verbrechen der Nazis, ein unfassbarer  Zivilisationsbruch, den zu Beginn des 20. Jahrhunderts niemand für möglich gehalten hatte. Das ganze Ausmaß der Ermordung der europäischen Juden wurde erst nach der Zerschlagung des NS-Regimes bekannt. So lebten in Berlin 1941 etwa 66.000 Juden, im Mai 1945 waren es nur noch ca. 7.000. Mit der Ausstellung des Anne-Frank Zentrums, die wir heute hier eröffnen, werden die Geschichten von fünf Kindern erzählt, die in Berlin verfolgt wurden, weil sie Juden waren. Sie tauchten mit ihren Familien zwischen 1943 bis 1945 in Berlin unter. Einige überlebten und konnten später ihre Geschichte erzählen. Andere wurden verraten, deportiert  und ermordet. Mehr als 7000 Jüdinnen und Juden haben versucht, in Berlin zwischen 1941 und 1945 in einem Versteck zu überleben. Nur etwa 1500 Menschen haben es geschafft. Zumeist mit der Hilfe von couragierten, mutigen nicht-jüdischen Helfern. Manche mögen es heute oft für selbstverständlich halten, in Frieden und Freiheit zu leben. Aber diese Werte sind immer wieder gefährdet. Es genügt ein Funke, ein unbedachtes Wort, eine schnelle Tat, um eine Eskalation hervorzurufen oder einen Flächenbrand auszulösen. Frieden und Freiheit sind empfindliche Güter. Deshalb müssen wir stets und überall wachsam zu sein. Solange Menschen denken, dass sich politische, wirtschaftliche, ethnische oder religiöse Konflikte mit Gewalt, Ausgrenzung oder Terror lösen ließen, solange müssen wir deutlich machen, dass wir dies nicht tatenlos hinnehmen werden, dass wir vielmehr alles daransetzen, den inneren Frieden, unsere Demokratie und die Freiheit jedes Einzelnen bewahren und beschützen. Die Verantwortung anzunehmen, die sich aus unserer  Geschichte ergibt, und unsere Werte zu verteidigen, das ist unsere Aufgabe, heute und morgen. Die Geschichte des Aufstiegs der NSDAP in der Weimarer Republik und die sich nach dem 30. Januar 1933  entwickelnde national-sozialistische Gewaltherrschaft in Deutschland machen deutlich, wie schnell moralische, menschliche Werte zu gefährden sind und wie dünn der Firness der Zivilisation sein kann. Diese Geschichte zeigt uns aber auch, dass es immer wieder mutige Menschen gab, die für Demokratie, Freiheit und Mitmenschlichkeit eintraten. Und die stark genug waren, andere zu schützen, auch wenn das eigene Leben dadurch gefährdet war. Es steht daher in unserer Verantwortung, jeder Generation aufs Neue zu vermitteln, was damals geschehen ist. Mit dem zeitlichen Abstand nimmt das Wissen ab, wie viele Untersuchungen der letzten Jahre belegen. Deshalb ist es unsere Aufgabe,  über die Verbrechen der Nazis immer wieder aufzuklären und hinzuweisen. Wir müssen alles dafür tun, damit sich Auschwitz nie und nirgendwo wiederholt. Die Ausstellung des Anne-Frank-Zentrums, die in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Antisemitismusforschung der TU-Berlin und der Gedenkstätte Deutscher Widerstand entstand, soll ihren Beitrag dazu leisten und ich bin deshalb sehr froh, diese Ausstellung heute hier im Abgeordnetenhaus -  im Rahmen des Gedenkjahres 2013 - eröffnen zu können. Ich hoffe, dass vor allem Schülerinnen und Schüler die Gelegenheit zu einem Besuch der Ausstellung wahrnehmen werden. Darüber hinaus freue ich mich sehr, dass die beiden Autoren Tina Hüttl und Alexander Meschnig im Rahmen dieser Ausstellung am 13. November 2013 eine Lesung aus dem Buch „Uns kriegt ihr nicht“ durchführen werden. Darin werden die Schicksale jüdischer Überlebender geschildert, die als Kinder versteckt wurden. Eingeladen sind dazu zwei Berliner Schulklassen, die im Anschluss an die Lesung eine Führung durch die Ausstellung erhalten werden. Abschließend möchte ich unseren jungen Künstlern – Constantin Siepermann und Jeremia Wiede, die sie beide zum Abschluss noch als Duo hören werden – meinen besonderen Dank für die musikalische Umrahmung dieser Ausstellungseröffnung aussprechen. Beide sind Schüler am Carl-Philipp Emanuel Bach Gymnasium und haben bereits mehrfach Preise beim Wettbewerb "Jugend musiziert" sowohl auf Landes- als auch auf Bundesebene gewonnen. Constantin ist darüber hinaus Stipendiat der internationalen Musikakademie zur Förderung musikalisch Hochbegabter in Deutschland und Jeremia gehört seit August 2013 zu den Mitgliedern der Deutschen Streicherphilharmonie, dem jungen Spitzenensemble der deutschen Musikschulen. Ein großes Lob an euch beide und viel Erfolg bei eurer weiteren musikalischen Laufbahn . Ihnen, meine sehr geehrten Damen und Herren, wünsche ich einen interessanten Rundgang durch die Ausstellung und heiße Sie alle nochmals herzlich Willkommen im Abgeordnetenhaus von Berlin. Ich darf Sie, sehr geehrter Herr Heppener nun bitten, zu uns zu sprechen.