Rede des Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin Ralf Wieland zur Eröffnung der Ausstellung "Kinder im Exil"
05.09.2018 18:00, Abgeordnetenhaus
Für viele Menschen ist das Wort „Exil“ – glücklicherweise – höchstens ein abstraktes Gedankenexperiment.
Doch was tun, wenn das eigene Überleben nicht mehr gewiss ist und das einst so vertraute Umfeld keine Sicherheit mehr bietet. Was dann? Anpassen bis zur eigenen Unkenntlichkeit oder Widerstand riskieren? Alles aufgeben und einen Neuanfang in der Fremde wagen? Arbeit, Netzwerke, Freunde, Gewohnheiten, Sprache – all das hinter sich lassen?
Diese Fragen zeigen: „Exil“ ist das Ergebnis fundamentaler Entscheidungsprozesse – und die stellen nicht nur das eigene Leben auf den Kopf, sondern oft das einer ganzen Familie, allen voran der Kinder.
Die Ausstellung „Kinder im Exil“ der Akademie der Künste wagt einen Blick in das Seelenleben und die Erfahrungswelt eben dieser Kinder. Kinder, die in ihren prägendsten Jahren Erfahrungen des Abschieds, der Ungewissheiten, der Fremdheit, aber auch des Neuanfangs gemacht haben.
Dabei schlägt die Ausstellung einen großen Bogen: Wir lernen die erstaunlichen Persönlichkeiten und Lebenswege von jungen Menschen kennen, deren Eltern vor Verfolgung durch die Nationalsozialisten geflohen sind.
Gleichzeitig bietet die Ausstellung Raum für die kreativen Begegnungen mit dem Thema Exil, die Berliner Schülerinnen und Schüler im Rahmen der KUNSTWELTEN-Projekte machen konnten. Darunter auch Kinder aus Berliner Willkommensklassen, für die „Exil“ eben kein abstraktes Gedankenspiel ist, sondern früh erfahrene Wirklichkeit und Teil ihrer Identität. Diese Themenbreite wirkt dabei keineswegs unscharf, sie schärft vielmehr den Blick für das Universelle an dieser Problematik.
Fluchtbewegungen, Fluchterfahrungen – sei es durch Krieg oder Klimawandel oder Hungersnot – wird es geben, solange die Menschheit existiert. Und Kinder - unsere schutzbedürftigsten Erdenbürger – werden davon stets am stärksten betroffen sein. Die Ausstellung „Kinder im Exil“ ruft uns genau das in Erinnerung. Und ich hoffe, dass diese Ausstellung dazu beiträgt, Menschlichkeit und Empathie endlich wieder stärker in das Zentrum einer Debatte zu rücken, die in den vergangenen Monaten und Jahren so erschreckend verroht ist.
Gleichzeitig macht diese Ausstellung Mut. Es werden junge Persönlichkeiten vorgestellt, die im Laufe ihres Lebens Enormes leisten werden, die sich ihren Platz in der Welt erfolgreich erkämpfen werden und die zu toleranten Weltbürgerinnen und -bürgern heranwachsen. Und das vielleicht auch, weil ihre Exil-Erfahrung nicht nur Herausforderung, sondern auch Bereicherung war. Als Präsident des Abgeordnetenhauses freue ich mich ganz besonders, dass Edzard Reuter und seine bewegte Biografie in dieser Ausstellung Platz finden.
Edzard Reuter – Ur-Berliner, Sohn des einstigen Regierenden Bürgermeisters von Berlin Ernst Reuter, später Vorstandschef bei Daimler-Benz und geschätzter Ehrenbürger unserer Stadt, zog im Alter von sieben Jahren ins Exil nach Ankara. Dort fanden er und seine Eltern – überzeugte Sozialdemokraten – 1935 Zuflucht vor nationalsozialistischer Verfolgung. Edzard Reuter hat Berlin maßgeblich geprägt. Er war prominenter Fürsprecher für einen gesamtdeutschen Regierungssitz in Berlin. Er fördert die Künste und die Wissenschaft in dieser Stadt. Und er wird nicht müde, sich einzumischen – mit einer Vorliebe für unbequeme Mahnungen und einem Gespür für die großen Fragen unserer Zeit.
Ein Blick in die Annalen unserer Parlamentsdokumentation zeigt, dass er sogar in unseren Plenardebatten Spuren hinterlassen hat. Über seine Worte, Berlin dürfe seine Zukunft nicht verschlafen, wurde 1991 in einer Aktuellen Stunde leidenschaftlich debattiert und – wie es sich gehört – auch gestritten.
Die Ausstellung der Akademie der Künste gibt nun sorgsam ausgewählte Einblicke in die Kindheit des hochgewachsenen blonden Jungen „mit den Storchenbeinen“, wie ihn seine türkischen Kumpels neckten. Die Bilder und Briefwechsel lassen nachempfinden, weshalb Edzard Reuters Verhältnis zur Türkei bis zum heutigen Tage von Dankbarkeit und Verbundenheit geprägt ist – aber angesichts der aktuellen politischen Situation auch von Sorge und Unverständnis.
Dafür, und natürlich für diese äußerst facetten- und aufschlussreiche Ausstellung in Gänze möchte ich der Akademie der Künste, stellvertretend der Präsidentin Frau Professor Meerapfel, danken. Wir haben ja das Glück, auch über Ihre Kindheit in Buenos Aires in dieser Ausstellung mehr erfahren zu dürfen. Und so ich gehe davon aus, dass „Kinder im Exil“ für Sie ganz persönlich ein Herzensprojekt ist. Mein Dank gilt ebenso vollumfänglich der Kuratorin Dr. Gesine Bey, die uns eine so plastische und zugleich lehrreiche Ausstellung beschert.
Ich danke Dr. Marion Neumann von den KUNSTWELTEN-Projekten für die inspirierenden Begegnungen, die sie jungen Menschen ermöglicht. Schlussendlich möchte ich die Schülerinnen und Schülern der Paul-Dessau-Schule Zeuthen willkommen heißen, die heute in Mannschaftsstärke hier erschienen sind und gleich das Theaterspiel „Rummelplatz“ aufführen werden.
Ich wünsche Ihnen, sehr verehrte Damen und Herren, im Anschluss einen erkenntnisreichen Rundgang durch die Ausstellung und darf nun das Wort an Frau Professor Meerapfel übergeben.