Rede des Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin Ralf Wieland zum Jubiläumsempfang der Arbeiterwohlfahrt
15.03.2019 18:00, Kulturzentrum Staaken
Für mich könnte die Woche kaum schöner ausklingen als mit einem fröhlich-runden Geburtstag. Das heißt, nein, eigentlich sind es ja sogar gleich zwei große Ereignisse, die uns heute Abend zusammenführen: Das 100-jährige Jubiläum der Arbeiterwohlfahrt und das 30-jährige Bestehen als eigenständiger Kreisverband, liebe Spandauer AWO! Deshalb zu aller erst einmal: Ganz herzliche Glückwünsche!
Jubiläen sind für mich immer auch ein guter Anlass, mir Gedanken über die Zeit zu machen: Wie schnell sie vergeht, wie man sie sinnfüllend gestalten und ergiebig verteilen kann. Denn die Zeit, so scheint es, ist immer zu knapp!
Das sehe ich gar nicht nur in meiner Rolle als Politiker so, sondern auch als „Privatmensch“. Ich kann mir gut vorstellen, dass hier alle genau wissen, wovon ich spreche. Denn die allgemeine Beschleunigung fängt für die meisten von uns ja schon morgens am Frühstückstisch an. Kaum hat man es in „die Senkrechte“ geschafft, werden die Schlagzeilen studiert und die ersten Mails beantwortet. Bei mir entsteht manchmal der Eindruck, dass wir beim täglichen Spagat zwischen Familie und Beruf vergessen könnten, worauf es wirklich ankommt: Das Miteinander.
Und da kommt die AWO mit ihrer Arbeit ins Spiel! Denn Gemeinschaftlichkeit ist bei der Arbeiterwohlfahrt kein leeres Wort, sondern ihr Selbstverständnis. Sie ist das Zuhause von einigen und die Erinnerung an Kita-Tage von anderen. Für viele Menschen ist sie der Arbeitgeber oder das Ehrenamt, für manch andere die Anlaufstelle in besonderen Lebenslagen: Von der Schwangerschafts- bis zur Schuldnerberatung begegnet die AWO ihren Gegenübern fair und wertschätzend. Bei der Arbeit geht es weniger um Probleme als um die Chancen: für Junge und Alte, erwerbslose, geflüchtete, erkrankte oder pflegebedürftige und gehandicapte Menschen. Das ist ein wertvoller Beitrag, der viele Menschen – auch in unserer Stadt – ganz unmittelbar betrifft. Dafür möchte ich der Arbeiterwohlfahrt im Namen des gesamten Parlaments sehr herzlich danken!
Auch die Akzente, die die AWO für mehr Gerechtigkeit, Gleichheit, Toleranz und Solidarität setzt, sind aus dem politischen Diskurs nicht mehr wegzudenken. Damit vertritt die Arbeiterwohlwahrt auch heute noch die Werte, die Marie Juchacz 1919 zur Gründung der AWO antrieben. Wenn ich an Marie Juchacz denke, frage ich mich vor allem immer eines: Wie viel Engagement in so ein Menschenleben passen kann?
Womit wir auch wieder bei der immer knappen Zeit wären. Denn auch Marie Juchacz muss davon wenig gehabt haben. Als Arbeiterin und alleinerziehende Mutter zweier Kinder brachte sie Zeit und Kraft auf, sich umfassend zu belesen und in den Frauenarbeitervereinen der Sozialdemokraten aktiv zu werden. 1917 übernahm sie als zentrale Frauensekretärin Verantwortung bei der SPD. Sie setzte sich vor allem für das Wohlergehen der Armen ein, für bessere Löhne der Werktätigen und natürlich auch für das aktive und passive Wahlrecht von Frauen, von dem auch sie bald darauf profitierten sollte. Am 19. Februar 1919 sprach Marie Juchacz als erste Frau in einem deutschen Parlament. Es ist inzwischen 100 Jahre her, dass sie ihre Rede in der Weimarer Nationalversammlung mit den unvergesslichen Worten eröffnete: „Meine Herren und Damen!“ Das Protokoll vermerkte an dieser Stelle „Heiterkeit“.
Ihre humorvollen, klug gewählten Worte markieren einen Meilenstein in der Geschichte der Gleichberechtigung in Deutschland. Wenn wir heute daran denken, wie selbstverständlich es für uns geworden ist, dass Gleichheit ein Fundament der Demokratie ist, sollten wir dabei nicht vergessen, dass das Frauenwahlrecht hart erstritten und erkämpft werden musste. Daran nicht mehr zu denken, käme einer Gleichgültigkeit nahe, die der Demokratie gefährlich werden kann. Gerade in Zeiten, in denen in Europa Kräfte erstarken, denen Geschlechtergerechtigkeit kein besonderes Anliegen zu sein scheint. Schließlich ist die Republik nur kurze Zeit nach Einführung des Frauenwahlrechts auf brutale Weise in den Untergang getrieben worden. Die Nationalsozialisten entzogen den Frauen das passive Wahlrecht und machten das aktive ohnehin zur Farce – und zwar für alle! Bis dahin, bis 1933, setzte Marie Juchacz sowohl im Rahmen ihrer Arbeit bei der AWO als auch als Politikerin sozialpolitische Akzente ohne dabei den Konflikt zu scheuen. Auch dann nicht, wenn sie sich zu strittigen frauenpolitischen Themen äußerte wie beispielsweise der Reform des Ehescheidungsgesetzes oder des Strafrechtsparagraphen 218.
Marie Juchacz blieb Mitglied des Reichstags, Frauensekretärin der SPD im Parteivorstand und Vorsitzende der AWO bis die Nationalsozialisten all das zugrunde richteten, wofür sie zeitlebens gekämpft hatte: Menschlichkeit, Zusammenhalt, Teilhabe und Gleichberechtigung. Genauso wenig wie die AWO passte Marie Juchacz sich an. Sie ging ins Exil und wirkte im Widerstand. In New York gründete sie die „Arbeiterwohlfahrt USA – Hilfe für Opfer des Nationalsozialismus“. Marie Juchacz war eine Frau, die ihren Überzeugungen bis ins hohe Alter treu blieb. Bis zu ihrem Tod 1956 war sie Ehrenvorsitzende der AWO.
Seit kurzem schmückt ein Denkmal an Marie Juchacz den Berliner Mehringplatz. Es erinnert nicht nur an eine außergewöhnliche Persönlichkeit, sondern auch an die mit ihrem Namen unweigerlich verbundene Demokratiegeschichte in Deutschland. Für mich ist Marie Juchacz eine Visionärin, deren Impulse bis heute nichts an Wirkung verloren haben. Die Sozialdemokratin gründete die Arbeiterwohlfahrt in einer Zeit, in der es noch keine bzw. eine kaum ausgeprägte staatliche Fürsorge gab, weder den Mutterschutz noch technische Hilfsmittel im Haushalt. Die Arbeitswoche verteilte sich auf sechs Tage, Kinderarbeit war nichts Ungewöhnliches. Sicher: Wir leben heute in anderen Verhältnissen und die damaligen Bedingungen gehören der Vergangenheit an. Trotzdem müssen wir uns eingestehen, dass es in Deutschland, einem der reichsten Länder der Welt, Kinder gibt, die in Armut aufwachsen. Wir erleben einen immer größer werdenden Niedriglohnsektor und Menschen, die unter prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeiten. Es sind insbesondere die Frauen und gerade Mütter beziehungsweise Alleinerziehende, die von Altersarmut bedroht sind. Es gab damals Suppenküchen und es gibt sie auch heute noch. Wir erleben Übergriffe auf Minderheiten und deren Diskriminierung im Alltag. Und ich finde zum Beispiel auch, dass wir moderner sein könnten, was die Barrierefreiheit in unserer Stadt betrifft.
Gerechtigkeit wird immer Thema sein. Kurzum: Marie Juchacz ist nicht von gestern! Wir erleben aktuell, dass es notwendig ist, ihre Forderungen nach mehr Gerechtigkeit in die Gegenwart zu tragen – und umzusetzen! Dazu brauchen wir Organisationen wie die Arbeiterwohlfahrt, die sich dem Gemeinwohl verpflichtet haben und deren Handlungen nicht der Gewinnmaximierung unterworfen sind. Ich möchte nicht unterlassen auf die sich verändernden Rahmenbedingungen für die Arbeit in den Bereichen Pflege und Kinderbetreuung hinzuweisen.
Liebe Freundinnen und Freunde der AWO, in einer sich gefühlt immer schneller drehenden Welt, einem schnelllebigen Alltag brauchen wir die Arbeiterwohlfahrt mit ihren vielen engagierten Mitgliedern und hauptamtlich Beschäftigten als Anker, denn ihre Arbeit setzt ein Zeichen dafür, dass Zeit nicht unter der Prämisse „Zeit ist Geld“ zur Ware werden muss. Eine funktionierende Gesellschaft lebt auch von Institutionen, die sich dem Miteinander verschrieben haben und vom ehrenamtlichen Engagement ihrer Bürgerinnen und Bürger.
Dabei geht es nicht um die Hilfestellungen als solche, sondern vor allem um die gegenseitige Wahrnehmung von Menschen in unterschiedlichen Situationen. Auch das ist Demokratie! Marie Juchacz wusste das, wir wissen es! Es gibt zweifelsohne noch genug zu tun und ich bin mir sicher, dass die AWO dabei sein wird. Auf die nächsten 100 Jahre! Herzlichen Dank!