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Rede des Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin Ralf Wieland zum Gedenken an den Aufstand im Warschauer Ghetto

12.04.2018 19:00, Jüdisches Gemeindehaus

Der 75. Jahrestag des beginnenden Aufstandes im Warschauer Ghetto am 19. April 1943 hat für mich eine besondere Bedeutung. Im März bin ich mit einer Präsidiumsdelegation nach Warschau gereist. Die vielen Bilder und Eindrücke sind mir daher heute sehr gegenwärtig.

Die Kranzniederlegung am Ehrenmal der Helden des Ghettos und der Besuch des neuen Museums der Geschichte der polnischen Juden berührten mich zutiefst. Die Erinnerung an den Kniefall von Willy Brandt 1970, für mich eines der ausschlaggebenden Ereignisse, mich politisch zu engagieren. Was uns heute bleibt – was einer Generation bleibt, die zwar keine Schuld mehr trifft, aber Verantwortung trägt – ist vor allem die Erinnerung. Und diese Erinnerung an eines der grausamsten Kapitel der deutschen Geschichte ist gleichzeitig eine Mahnung. Ihr Auftrag ist der Dialog.

Bis zu dem deutschen Überfall auf Polen waren jüdische Kultur, Synagogen, jüdische Schulen und koschere Restaurants im Warschauer Stadtbild allgegenwärtig. Als das Ghetto im Herbst 1940 errichtet wurde, schloss es mehr als 400 000 Jüdinnen und Juden von der Stadt ab und bereitete ihnen einen Alltag unter grausamen Umständen. Räumliche Enge, Lebensmittelknappheit, mangelhafte sanitäre Bedingungen und Krankheiten bestimmten das Leben im Ghetto. Die Menschen versuchten die Not durch Suppenküchen, Waisenheime und Krankenhäuser zu mildern, konnten der fortschreitenden Verelendung jedoch kaum etwas entgegensetzen.

Als Heinrich Himmler 1942 im Rahmen der „Endlösung der Judenfrage“ die Deportation des Ghettos in Vernichtungs- und Arbeitslager anordnete, war bereits ein Viertel der Bevölkerung an den Lebensbedingungen im Ghetto verstorben. Zwischen Sommer und Herbst 1942 deportierte die deutsche Besatzung täglich 7 bis 10 000 Menschen in Güterwagen überwiegend nach Treblinka. Bis zum Jahresende wurde die Mehrheit der Bewohnerinnen und Bewohner des Ghettos ermordet. Wie an vielen anderen Orten des nationalsozialistischen Terrors wurde auch hier – außerhalb der Mauern und Zäune – „weggeschaut“. War es nur Angst, Scham oder auch mangelnde Empathie?

Der Literaturnobelpreisträger Czesław Miłosz beschrieb die Teilnahmslosigkeit der außerhalb des Ghettos lebenden Menschen auf der Kirmes an der Ghettomauer in dem Gedicht „Campo di Fiori“ von 1943:

„Im Frühling vor Karussellen

Bei Klängen lustiger Lieder.

Der Schlager dämpfte die Salven

Hinter der Mauer des Ghettos

Und Paare flogen nach oben

Hinauf in den heiteren Himmel.

[…] Der Wind trieb zuweilen schwarze Drachen von brennenden Häusern

Die Schaukelnden fingen die Flocken

Im Fluge aus ihren Gondeln.“

Von den im Ghetto noch etwa 60 000 verbliebenden Menschen waren nur 35 000 offiziell gemeldet, die Arbeitsausweise – sogenannte Lebensnummern – besaßen. Diese garantierten vorerst das Leben. Doch ahnten die im Ghetto gebliebenen Menschen, dass die nächste Räumung ihren Tod bedeuten würde. Überlebenschancen schien es keine zu geben. Aus Verzweiflung und Aussichtslosigkeit entstand die Kraft zur Gegenwehr. Die verschiedenen Widerstandsgruppen im Ghetto vereinten sich, knüpften Kontakte zum polnischen Untergrund, organisierten Waffen und klärten die Ghettobevölkerung über das Schicksal der deportierten Menschen auf.

Am 18. Januar 1943 gelang es den Widerstandskämpferinnen und -kämpfern, die Sammlung und Deportation mehrerer Tausend Menschen zu stören. Auch wenn der Widerstand viele Opfer hinnehmen musste, gelang es, dass sich die deutschen Truppen nach vier Tagen aus dem Ghetto zurückzogen. Als die SS-Truppen am Morgen des 19. April 1943 in das Ghetto einmarschierten, waren die Widerstandsgruppen und die Bevölkerung vorbereitet.

Der Aufstand begann: Die jüdischen Kämpferinnen und Kämpfer setzten sich zur Wehr. Überfordert zogen sich die deutschen Truppen zurück und die für die Deportation bereitgestellten Güterwagons blieben leer. Die darauffolgenden Tage wurden von heftigen Straßenkämpfen bestimmt. Wenige Hundert kläglich bewaffneten jüdische Kämpferinnen und Kämpfer ließen die Räumung des Ghettos für die mehr als 2000 deutschen Angreifer zu einem Desaster werden.

Mordechaj Anielewicz, Kommandant der Jüdischen Kampforganisation ŻOB, schrieb in einem seiner letzten Briefe: „Jüdische Selbstverteidigung im Ghetto ist verwirklicht worden. Vergeltung und Widerstand von jüdischer Seite ist eine Tatsache geworden. Ich bin Zeuge des heldenhaften Mutes der jüdischen Kämpfer gewesen.“

Der Kampf wirkte. Die Widerstandsgruppen schafften es, den Aufstand beinahe vier Wochen lang aufrecht zu halten, bis der der SS-Brigadeführer Jürgen Stroop am 16. Mai die große Synagoge im Ghetto sprengte. Bis auf wenige Untergetauchte und Überlebende in verschiedenen Lagern war die größte jüdische Gemeinde Europas vollständig ausgelöscht.

Wenn wir uns heute an die Kämpferinnen und Kämpfer des Warschauer Ghetto Aufstandes erinnern – und zwar an alle: die bekannt gewordenen, die unbekannten, die organisierten und die einzeln oder in sogenannten wilden Gruppen agierenden – dann erinnern wir uns an Selbstbehauptung und Zivilcourage. Wir wissen, welches Leid dem polnischen Volk, den polnischen Jüdinnen und Juden zugefügt wurde.

Doch wenn wir an den Völkermord der Menschen jüdischen Glaubens denken, erinnern wir uns auch an das kollektive Wegsehen. Teilnahmslosigkeit und Ignoranz sind heute nicht ungefährlicher als damals. Zivilcourage ist auch heute geboten, denn wir wissen von Beleidigungen und Übergriffen auf Menschen jüdischen Glaubens – hier in Berlin und anderswo.

Derzeit bewegt uns religiös motiviertes Mobbing an Berliner Schulen. Wegschauen ist keine Option. Marek Edelman, einer der Anführer des Aufstandes im Warschauer Ghetto, hat einmal gesagt: „Ein gleichgültiger Zeuge, der den Kopf abwendet, trägt auch Verantwortung; sein ganzes Leben lang wird ihm das Unrecht anhängen, das er zu übersehen versuchte.“

Und es stimmt: Gleichgültig dürfen wir in der Tat nicht sein. Nie wieder dürfen wir eine Zuschauerrolle einnehmen. Sondern: Wir müssen offensiv in einen Dialog eintreten – mit anderen Nationen, mit anderen Religionen und auch mit Andersdenkenden.

Ich weiß, dass wir Politikerinnen und Politiker dabei eine besondere Verantwortung tragen. Es ist unsere Aufgabe, den Dialog zu gestalten. Deshalb bin ich besonders froh über die Städtepartnerschaft zwischen Warschau und Berlin. Sie ist ein unverzichtbarer Kanal für den Dialog.

Marek Edelman hat auch einmal gesagt: „Der Hass ist leicht.“ Er hat recht. Respekt und Toleranz sind anstrengend. Aber sie sind der einzige Weg zum Frieden – nach innen wie nach außen.

Vielen Dank! Shalom.