Rede des Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin Ralf Wieland zu Beginn der Feierstunde anlässlich der 60. Wiederkehr des Volksaufstandes am 17. Juni 1953
12.06.2013 18:00, Plenarsaal
- Es gilt das gesprochene Wort - „Brüder zur Sonne, zur Freiheit“ – für viele ehemalige DDR-Bürger ist dieses Lied sicherlich immer noch mit der Staatspartei und damit mit dem Staatsapparat leidvoll verbunden. Wenn dieses Lied zu Beginn der Ereignisse um den 17. Juni von Streikenden gesungen wurde, dann sicherlich auch, um den Herrschenden einen Spiegel vorhalten zu wollen. So wie es 1989 Demonstranten versuchten, als sie das Rosa-Luxemburg-Zitat „Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden“ auf Transparenten hochhielten. „Ewig, der Sklav’rei ein Ende“, und damit Befreiung von Bevormundung und Unterdrückung – dies blieb dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 versagt. “Wir müssen wissen, dass die Sowjets auf dem von ihnen besetzten Territorium mehr oder weniger machen werden, was sie wollen.“, das sagte der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt im Herbst 1943. Und Stalin konstatierte, dass “dieser Krieg wie keiner in der Vergangenheit ist; wer immer ein Gebiet besetzt, erlegt ihm auch sein eigenes gesellschaftliches System auf.“ Mit dem Ende des zweiten Weltkrieges waren also in der Welt Einflusssphären entstanden, die nicht mehr wegzudiskutieren waren. Nachdem das „Dritte Reich“ im Mai 1945 untergegangen war, kontrollierte die Sowjetunion große Gebiete Mitte- und Osteuropas. Ein Teil davon war die sowjetische Besatzungszone in Deutschland. In diesem Bereich sollte die Gesellschaft nach dem sowjetischen Vorbild umgestaltet werden. Mit der Gründung der beiden deutschen Staaten war der Schritt getan: Der Weg der DDR zu einem Satellitenstaat Moskaus. In wenigen Tagen jährt sich der Volksaufstand zum 60. Mal, der 17. Juni 1953. Der Historiker Heinrich August Winkler hat die historische Bedeutung der Volkserhebung in der DDR so zusammengefasst: “Der 17. Juni 1953 war die erste Massenerhebung gegen ein kommunistisches Regime seit 1945.“ Wenn wir heute auf die Ereignisse von damals schauen, dann steht nicht mehr die Geschichte einer Niederlage im Vordergrund. Wir sehen die spontane Volkserhebung als eindrucksvolle Demonstration gegen den diktatorischen Machtanspruch der SED. Wir reihen den 17. Juni 1953 ein in eine Reihe freiheitlicher Erhebungen von 1848 bis 1989. Was anfänglich - nach einer langen Reihe von Repressionen und Unterdrückung - der Protest der Berliner Bauarbeiter gegen erhöhte Normen und Lohneinbußen war, hatte sich binnen Stunden in massive politische Forderungen verwandelt. Und wie ein Lauffeuer Städte und Dörfer in der DDR ergriffen. Und am Höhepunkt der Auseinandersetzungen war es nicht nur die Arbeiterschaft, die für Freiheit und Demokratie eintrat. Noch sechs Wochen vor dem Juni-Aufstand hatte Walter Ulbricht als Generalsekretär des Zentralkomitees der SED die DDR als einen Staat gekennzeichnet, “der erfolgreich die Funktionen der Diktatur des Proletariats ausführt“. Wie realitätsfremd diese Einschätzung war, zeigte sich in den Ereignissen um den 17. Juni. Noch Tage nach dem Aufstand sagte ein Arbeiter bei einer Belegschaftsversammlung in Ost-Berlin: “Ich bin stolz auf den 17. Juni“. Er habe die Arbeiter gelehrt, “dass sie eine Kraft sind und einen Willen haben“. Der Volksaufstand war eine Bankrotterklärung für das DDR-Regime. Seine blutige Niederschlagung glich – wie es Gesine Schwan einmal formulierte, einer „Kapitulationserklärung der SED an die eigene Bevölkerung“. Wie tief sich die Ereignisse in das Gedächtnis der DDR-Führung eingebrannt hatten, zeigt exemplarisch ein Auszug aus einem Monatsbericht der Staatssicherheit in der Stadt Brandenburg zur Einschätzung der Lage aus dem August 1989, also 36 Jahre später: Ich zitiere: “Es wird hierbei eine Parallele zu den Ereignissen des 17.6.53 gezogen. Damals wurden bekanntlich Berliner Bauarbeiter aufgeputscht und deren Unzufriedenheit ausgenutzt. Ausgangspunkt könnte unter den heutigen Bedingungen Leipzig sein.“ Diese Einschätzung war richtig und ein Glück für uns alle. Leipzig wurde die Stadt der Montagsdemonstrationen. Und diesmal – 1989 – half die Sowjetunion nicht den Machthabern! In den letzten Jahrzehnten haben verschiedene Generationen von Deutschen den 17. Juni in ganz unterschiedlicher Weise erlebt. Schon wenige Tage nach dem Aufstand wurde auf eine Initiative Herbert Wehners hin im Bundestag der 17. Juni als „Tag der Deutschen Einheit“ ein nationaler Feiertag. Im Osten als „faschistischer Putschversuch“ totgeschwiegen, verblasste seine Bedeutung auch in der Bundesrepublik recht schnell. Letztlich war es in der allgemeinen Wahrnehmung ein im Sommer gelegener, freier Tag, den allgemeinen Ritualen und Traditionen folgend wurden Kränze niedergelegt und in Reden halbherzig die Wiedervereinigung beschworen. Der 17. Juni hat das Geschichtsbewusstsein der Deutschen jahrzehntelang nicht wirklich geprägt. Erst nach der Wiedervereinigung und sicherlich auch mit dem Zugang zu neuen historischen Quellen erscheinen auch die Ereignisse des Juni 1953 in einem neuen und anderen Licht. International hatte der 17. Juni nie eine große Rolle gespielt, ganz anders als z.B. der Ungarnaufstand drei Jahre später. Ich freue mich, sehr geehrter Herr Professor Kleßmann, dass wir Sie für den heutigen Vortrag gewinnen konnten und bin schon sehr gespannt auf Ihre Analyse. Den Abschluss unserer heutigen Veranstaltung wird ein Rundgang durch die neue Ausstellung in der Wandelhalle des Abgeordnetenhauses bilden. Der Titel lautet: „Die DDR – zwischen Repression und Widerspruch“. Lutz Rathenow wird uns in seiner Rede in die Ausstellung einführen. Die Ausstellung spannt den Bogen von den Anfängen der DDR bis hin zu ihrem Zusammenbruch. Das Volk hat sich gegen die angebliche Arbeiter- und Bauernmacht erhoben. Ich möchte schließen mit dem Ausspruch eines Redners auf einer Massenkundgebung in Paris Anfang Juli 1953, der die Volkserhebung so bewertete. “Die Arbeiter von Ostberlin haben Deutschland seine Würde zurückgegeben.“ Das darf uns auch heute noch stolz machen. Ich danke Ihnen.