Rede des Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin Ralf Wieland bei der Feierstunde aus Anlass der Verleihung der Louise-Schroeder-Medaille
03.04.2014 18:00, Festsaal
- Es gilt das gesprochene Wort - Das Abgeordnetenhaus von Berlin verleiht heute Wildwasser die Louise-Schroeder-Medaille. Wir ehren damit die engagierte, bereits über 30 Jahre lang währende Arbeit. Ich gratuliere allen ehrenamtlichen und hauptamtlichen Mitarbeiterinnen des Vereins ganz herzlich. Das Kuratorium Louise-Schroeder-Medaille hat sie einhellig vorgeschlagen und das Präsidium des Abgeordnetenhauses hat diesen Vorschlag einstimmig angenommen. Über Gewalt an Mädchen und Frauen zu sprechen, ist kein ganz einfaches Thema. Nur allzu oft wird die Gewalt in der Familie erlebt. In einem Bereich also, der eigentlich Sicherheit und Geborgenheit geben sollte. Es ist kaum zu glauben, dass jede vierte Frau in Deutschland mindestens einmal in ihrem Leben sexuelle oder körperliche Gewalt erlebt. Die Frauen werden in den meisten Fällen von ihrem Partner oder Ex-Mann verprügelt, geschlagen und bedroht. Wenn jahrelange Gewalt in einer Beziehung eskaliert, erleben wir versuchte Tötungen und Morddrohungen bis hin zu dem dann tatsächlich begangenen Mord. Die polizeiliche Kriminalstatistik für das Jahr 2012 verzeichnet in Deutschland 106 derartige Tötungen an Frauen! Auch für Berlin sind die Zahlen weiter auf erschreckend hohem Niveau: Allein im Jahr 2012 wies die Kriminalstatistik rund 16.000 Fälle von häuslicher Gewalt auf. Dazu zählten in unserer Stadt drei Morde, sechs Totschlagdelikte, Vergewaltigungen und sexuelle Nötigung. Diese erschütternden Opferzahlen finden viel zu selten den Weg in die Öffentlichkeit. Denn: Wie hoch die Dunkelziffer ist, das wissen wir gar nicht. Und wir können nur erahnen, was Mädchen und Frauen durchleiden, denen Gewalt angetan wird. Die Weltgesundheitsorganisation hat ermittelt, dass Gewalt noch immer das größte und das am weitesten verbreitete Gesundheitsrisiko für Frauen ist und dass die wenigsten Täter bestraft werden. Und weltweit ist für die meisten Frauen zwischen 16 und 44 Jahren Gewalt die häufigste Todesursache. Das ist die bittere und bestürzende Wirklichkeit. Ich begrüße es deshalb sehr, dass das Abgeordnetenhaus sich in die lange Liste von Institutionen in ganz Deutschland eingereiht hat und sich jedes Jahr im November an der Fahnenaktion von Terre des Femmes beteiligt. Das Motto „Frei leben – ohne Gewalt“ hört sich nicht spektakulär an. Es sollte ja eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, dass Menschen ohne die Bedrohung von physischer oder psychischer Gewalt leben können. Aber ein freies und selbstbestimmtes Leben ist für viele Mädchen und Frauen keine Selbstverständlichkeit. Wir Parlamentarier setzen deshalb jedes Jahr im November ein Symbol. Wir senden das Signal, dass Gewalt gegen Mädchen und Frauen kein Randthema ist. Die Gewalt findet mitten in unsere Gesellschaft statt. Wir setzen damit aber auch ein Signal der Solidarität an Organisationen und Vereine wie Wildwasser, die jeden Tag gegen Diskriminierung und Gewalt an Mädchen und Frauen kämpfen. Wir dürfen diese Gewalt nicht einfach hinnehmen, wir wissen aber leider, dass Veränderungen in unserer Gesellschaft oft sehr lange dauern. Ein beredtes Beispiel dafür ist die Vergewaltigung in der Ehe. Erst 1997 stellte der Bundestag fest: Ja, eine Frau darf von ihrem Ehemann in der Ehe nicht vergewaltigt werden! Dass das erst vor 17 Jahren festgeschrieben wurde, erstaunt schon. Gewalt hat in Deutschland viele Gesichter: Mädchen und Frauen werden in die Prostitution gezwungen. Mädchen werden zwangsverheiratet. Mädchen werden die Genitalien verstümmelt, weil Menschen überkommene Rituale für wichtiger halten als die Gesundheit und die Würde ihrer Kinder. Im Oktober letzten Jahres hat das Abgeordnetenhaus in diesem Zusammenhang einen wichtigen Beschluss gefasst: Abgeordnete aller Fraktionen haben den Senat aufgefordert, dem „Pakt zur Beendigung der sexuellen Gewalt gegen Kinder“ des Kongresses der Gemeinden und Regionen des Europarats beizutreten, dessen Ziele zu unterstützen und Maßnahmen zur Erreichung dieser Ziele zu ergreifen oder zu stärken. Die Ziele der vom Europarat 2010 gestarteten Kampagne werden in Berlin natürlich schon längst angepackt. Hervorgehoben werden kann hier die Lenkungsgruppe Kinderschutz und das Netzwerk gegen sexuelle Gewalt. Dennoch ist es wichtig, das Thema immer wieder aufs Neue in die öffentliche Diskussion zu bringen. Die bemerkenswerte Kampagne des Europarats hat das Motto: „one in five“. Heißt: Eines von fünf europäischen Kindern ist von sexueller Gewalt betroffen. Zwischen 70 und 85 Prozent der Kinder kennen die Täter. Nach Expertenmeinungen werden aber 90 Prozent der Fälle sexueller Straftaten gar nicht angezeigt. Das lässt das gigantische Ausmaß ahnen, mit dem wir es zu tun haben. Und weil so viel ignoriert und verheimlicht wird, können so viele Täter weiter ungestraft schlagen und vergewaltigen. Diese Zahlen zeigen, warum es von elementarer Bedeutung ist, alle Menschen, die um Kinder herum sind, für dieses Thema zu sensibilisieren, damit sie auch merken, wenn sich ein Kind verändert. Ganz aktuell – erst vor wenigen Tagen – hat der Senat das Abgeordnetenhaus darüber unterreichtet, dass Berlin dem Pakt zur Beendigung der sexuellen Gewalt gegen Kinder beitritt. Damit ist unsere Stadt die erste Hauptstadt und das erste Bundesland überhaupt, dass die Bedingungen des Pakts erfüllt. Unsere heutigen Preisträgerinnen, der Verein Wildwasser, leistet in diesem Feld seit über 30 Jahren vorbildliche Arbeit. Er bietet Beratung, Schutz und Hilfe, die von den Betroffenen so dringend benötigt wird. Wildwasser setzt sich für das Selbstbestimmungsrecht von Mädchen und Frauen ein, für die Ächtung und Bekämpfung von Gewalt und Diskriminierung als Teil gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsstrukturen. Und damit für Gleichberechtigung und soziale Gerechtigkeit, für Menschlichkeit und Demokratie. Louise Schroeder, die Namensgeberin unserer Medaille, hat all das in ihrem Leben verkörpert, wofür auch Sie und Ihr Verein stehen. Sie hat sich lebenslang für soziale Gerechtigkeit und demokratische Strukturen eingesetzt und für Kinder- und Frauenrechte engagiert. Das Abgeordnetenhaus vergibt die Auszeichnung in jedem Jahr seit 1998 zu Louise Schroeders Geburtstag am 2. April. Die Medaille ist das Pendant zur Ernst-Reuter-Medaille und stellt eine der höchsten Auszeichnungen dar, die das Land Berlin zu vergeben hat. Louise Schroeder wurde am 2. April 1887 in Altona in armen Verhältnissen geboren. Altona war eine Hochburg der Sozialdemokratie und Louise-Schroeder begleitete ihren Vater schon früh zu Parteiveranstaltungen. Sie selbst konnte allerdings der Partei erst einmal nicht beitreten, denn sie wuchs in einer Zeit auf, in der Frauen weder einer politischen Partei angehören konnten, noch sie wählen durften. Allerdings waren Frauen in einem so genannten „Segment“ zugelassen, sie durften also in einem abgeteilten Raum sitzen und zuhören. An der Diskussion teilnehmen oder etwa klatschen durften sie nicht. Deshalb war Louise Schroeder auch zuerst in der damaligen Frauenbewegung tätig. Ab 1910 durften Frauen auch einer Partei beitreten und Louise-Schroeder wurde sofort Mitglied in dem SPD Ortsverband Altona-Ottensen. Trotz der Fortschrittlichkeit der SPD hatte sie aber auch dort zusammen mit den anderen Frauen mit den Vorurteilen der Männer zu kämpfen. Sie verabscheute den Krieg und verstand nicht, dass ihre Partei die Kriegskredite bewilligt hatte. Dennoch blieb sie in der SPD. 1919 gehörte Louise Schroeder zu den 19 Frauen der SPD, die in die Nationalversammlung einzogen. Anschließend arbeitete sie durchgängig bis 1933 als Reichstagsabgeordnete. Daneben war sie weiter politisch in Altona ab 1929 als Stadtverordnete tätig. Sie hatte großen Anteil an der Bildung des Ausschusses für soziale Fürsorge im Sommer 1919. Zusammen mit Marie Juchacz und Elfriede Rüneck gründete sie in Berlin die Arbeiterwohlfahrt. Ihre SPD-Fraktion schickte sie in den sozialpolitischen Ausschuss. Dort setzte sie sich für alle Menschen ein, die sich in großer Not befanden. Louise Schroeder war eine mutige Frau, die Reden hielt und Anträge einbrachte. Die Mitglieder ihres, des sozialpolitischen Ausschusses, wurden als „Klageweiber“ verspottet, denn deren Anliegen galten als „kleine Politik“. Die „große“ Politik schrieben sich die Männer unter den Parlamentarier zu. In ihrer Zeit als Abgeordnete setzte sie sich vor allem für die Rechte von Müttern und deren unehelichen Kindern ein und kämpfte energisch für die allgemeine Mutterschaftshilfe, die letztendlich 1927 eingeführt wurde. Auch das Jugendwohlfahrtsgesetz wäre ohne sie wohl nicht zustande gekommen. In der „Altonaer Notgemeinschaft“ organisierte sie in den zwanziger Jahren Hilfsmaßnahmen zur Linderung von Hunger und Not durch Spendensammlungen und Benefizveranstaltungen. In den Wintermonaten wurden bis zu 1400 Essen an die Altonaer Kinder ausgegeben. Erich Ollenhauer sagte einmal treffend über sie, Louise Schroeder sei „eine Frau, die mutig an der heißen Front der Sozialpolitik stand“. Mit der Machübergabe an die Nationalsozialisten endete ihre politische Tätigkeit und sie wurde unter Polizeiaufsicht gestellt. Im Nachkriegsdeutschland wählte man sie sofort in den Vorstand der Berliner SPD, 1946 wurde sie Bürgermeisterin, später Oberbürgermeisterin der Stadt Berlin. Aus einem Brief von Louise-Schroeder an den Chefredakteur des Münchener „Echo der Woche“ aus dem September 1949 möchte ich gerne zitieren. Der hatte sich mit anderen für ihre Kandidatur zum Bundespräsidenten eingesetzt. Sie antwortete ihm darauf: „Es ist seit Jahrzehnten meine feste Überzeugung, dass Männer und Frauen in allen öffentlichen Instanzen gemeinsam arbeiten müssen, und ich kann allen denjenigen, denen ich herzlich für Ihr Eintreten für mich als Bundespräsidenten danke, nur sagen: Lasst uns gemeinsam weiterarbeiten für unser deutsches Volk, dann werden auch die Frauen die Stellung im öffentlichen Leben erringen, die ihnen zukommt.“ Diese Sätze sagen deutlich, wie sehr ihr die Gleichstellung von Männern und Frauen am Herzen lag. Louise Schroeder arbeitete hart und unermüdlich, aber auch mit großer Leidenschaft. Schon in Altona war sie zu der Überzeugung gekommen, dass sich eine demokratische Staats- und Gesellschaftsform nur dann erkämpfen lässt, wenn man solidarisch zueinander steht und Männer und Frauen gemeinsam für soziale Gerechtigkeit einstehen. Mit ihrem kraftvollen und einfühlsamen Lebenswerk ist Louise-Schroeder eines der großen Vorbilder für die nach ihr folgenden Frauengenerationen geworden. Sie, sehr geehrte Mitarbeiterinnen des Vereins Wildwasser, sind im besten Sinne mit ihrem sozialpolitischen und frauenpolitischen Engagement den Idealen Louise Schroeders gefolgt. Ich freue mich sehr, Sie ab jetzt zu unseren Preisträgerinnen zählen zu dürfen.