Rede des Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin Ralf Wieland anlässlich der Verleihung der Louise-Schroeder-Medaille
21.04.2016 18:00, Festsaal
Ich darf Sie alle ganz herzlich zur diesjährigen Verleihung der Louise-Schroeder-Medaille begrüßen. Und ich danke Ihnen, dass Sie wieder so zahlreich erschienen sind. Herzlich willkommen im Abgeordnetenhaus. In diesem Jahr erhält das Desert Flower Center des Krankenhauses Waldfriede in Berlin-Zehlendorf die Auszeichnung. Und dieses Zentrum erhält sie zu Recht. Es ist weltweit einmalig, dass sich eine medizinische Fachabteilung ganzheitlich für die medizinische und psycho-soziale Behandlung von genitalverstümmelten Frauen einsetzt. Sie leisten damit Bahnbrechendes, verehrte Frau Dr. Strunz und Frau Brenda. Ihr Einsatz für die betroffenen Frauen ist überragend. Und ich verneige mich vor dem, was Ihre Kolleginnen und Kollegen leisten, um den misshandelten Frauen neuen Lebensmut zu geben. Ich muss aber gleichzeitig sagen: Es verschlägt einem die Sprache, wenn man erfährt, was diesen genitalverstümmelten Frauen widerfahren ist. Wie ahnungslos, wie wehrlos sie waren, als ihnen das angetan wurde. Das lässt sich nicht in Worte fassen. Ich möchte deshalb etwas zitieren, das die Journalistin Beate Krause schilderte, die mit einer genitalverstümmelten Frau aus Somalia gesprochen hatte: „Ein Entkommen gab es nicht. Jemand hielt ihre Arme fest, spreizte Safiyos Beine. Eine alte Frau saß vor ihr, ein Messer in der Hand, mit dem schnitt sie die Klitoris ab. Die gellenden Schreie des Mädchens beachtete die Alte nicht, die schon oft die grausame Prozedur durchgeführt hatte. Sie schnitt weiter, entfernte jetzt auch die kleinen Schamlippen und Teile der großen Schamlippen. Anschließend nähte sie die blutige, klaffende Wunde mit Fäden zu…“ Als Safiyo dies angetan wurde, da war sie zehn Jahre alt. Zehn Jahre – und die Folgen sind für Safiyo lebenslang zu spüren, auch wenn es ein Segen ist, dass ihr im Desert Flower Center medizinisch und psychisch geholfen wird. Safiyo ist kein Einzelfall. Weltweit sind nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation 150 Millionen Frauen beschnitten. Und die UNICEF geht davon aus, dass es in Europa 500.000 genitalverstümmelte Frauen gibt, in Deutschland sind es 35.000 Frauen. Eines ist klar: Die Genitalverstümmelung bei Mädchen und Frauen stellt eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung dar. Darauf hat sich auch die Weltgemeinschaft verständigt. Dieses Bekenntnis hat jedoch nicht dazu geführt, dass diese Praxis aufhört. Im Gegenteil: Wir können ja nicht einmal ausschließen, dass es Genitalverstümmelungen in unserem Land gibt. In der Diskussion bei uns steht zwar die Verschärfung und Konkretisierung des Strafrechts. Das ist auch sinnvoll. Aber es hilft nur dann, wenn die betroffenen Frauen die Körperverletzung auch anzeigen. Und das geschieht so gut wie nie. Es passiert vor allem deshalb nicht, weil die Mädchen und Frauen abhängig von Männern sind und weiter zur Familie gehören wollen. Nur wenige ergreifen die Flucht aus ihrem Umfeld. Safiyo wagte diesen Schritt und verließ ihr Heimatland Somalia. Sie ist aber eine Ausnahme. Kulturelle Riten und Traditionen zu durchbrechen, ist eine Mammutaufgabe. Es ist zudem schwer, von außen diesen Prozess anzustoßen. Und dennoch müssen wir es versuchen – immer wieder. Ich weiß, das ist nicht leicht. Es gab vor kurzem einen Vorschlag zweier us-amerikanischer Chirurgen, eine – in Anführungszeichen – abgemilderte Form der Beschneidung durchzuführen, um die Folgen für die Frauen zu minimieren. Ich frage mich allen Ernstes, wie das vermittelt werden soll. Ziel kann nur die Bekämpfung jeglicher Art von Verstümmelung sein. Deshalb ergibt es aus meiner Sicht wenig Sinn, derartige Vorschläge weiter zu verfolgen. Ich sehe, offen gestanden, nur einen Weg, um das Problem der weiblichen Genitalverstümmelung zu unterbinden. Und dieser Weg heißt Bildung. Kulturelle Muster lassen sich nur mittel- und langfristig verändern. Diese Erkenntnis ist bitter, weil das Leid, das hier den Frauen angetan wird, nicht von heute auf morgen beendet wird. Aber wir wissen auch: Jeder Tropfen höhlt den Stein. Ich bin davon überzeugt: Wenn wir aktiv noch intensiver darum kämpfen, die Analphabetenrate in den besonders armen afrikanischen Ländern zu senken, dann erhöht sich die Chance, dass Wissen sich verbreitet. Erst das Wissen um die Dinge führt dazu, Zusammenhänge kritisch zu hinterfragen. Ich möchte sagen: Bildung ist der Anfang jeglicher Emanzipation. Überhaupt scheint es mir angebracht zu sein, Initiativen gegen die Beschneidung in den jeweiligen Ländern zu unterstützen. Es bringt nicht sehr viel, den erhobenen Zeigefinger in Form von Resolutionen zu präsentieren. Hilfreicher ist die Unterstützung vor Ort. Beispiel Mali: Bei den Frauen in Mali nimmt der Widerstand gegen die Beschneidung zu. Sichtbares Zeichen dafür ist zum Beispiel der Radiosender „Die Stimme der Frauen“. Er klärt über die gesundheitlichen und psychischen Folgen einer Beschneidung auf. Hier müssen wir ansetzen und unterstützen, um den Frauen, die aus tiefster Überzeugung gegen diese Praktik ankämpfen, zu helfen. Auch in Mali gibt es zum Beispiel eine „Vereinigung für die Rechte der Frau“. Sie muss von uns gefördert werden – am besten direkt und ohne Umwege. Ich weiß, das sind beschwerliche Wege, die Geduld erfordern. Und wenn man bedenkt, dass Beschneiderinnen in diesen Ländern ein lukratives Einkommen haben und über ein hohes soziales Ansehen verfügen, dann ist das kein einfaches Unterfangen. Aber wir müssen beharrlich sein und uns weiter bemühen, damit die Vernunft irgendwann auch in den Ländern siegt, in denen Mädchen und junge Frauen beschnitten werden. Jeder, der sich als aufgeklärter Mensch mit dem Thema Beschneidung und Genitalverstümmelung beschäftigt, empfindet tiefste Betroffenheit, Unverständnis bis hin zu Wut und Scham. Das Thema macht unendlich traurig, weil es den betroffenen Mädchen und Frauen nicht nur dauerhaft Schmerzen zufügt, sondern ihnen auch die Seele raubt. Das geht bis zur Selbstverleugnung. Oder wie Safiyo es formulierte: „Ich habe es gehasst, dass ich als Frau geboren wurde“. Safiyo ist Patientin im Desert Flower Center, das wir heute mit der Louise-Schroeder-Medaille auszeichnen. Sehr geehrte Frau Dr. Strunz, sehr geehrte Frau Brenda, Berlin kann stolz auf Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen sein. Ihre Auszeichnung berührt mich besonders. Bei meinem Besuch Ihres Krankenhauses wurde mir Ihre so wichtige Arbeit schon einmal dargelegt. Und so freue ich mich für Sie, für Ihre Patientinnen, aber auch für uns alle, dass das Desert Flower Center in diesem Jahr die Louise-Schroeder Medaille erhält. Sie haben sie verdient. Und ich bin mir sicher: Louise Schroeder würde es genauso sehen. Herzlichen Dank.