Rede des Präsidenten des Abgeordnetenhauses Dennis Buchner zur Eröffnung der Ausstellung "BLICKWECHSEL - Ich zeig dir meine Welt"
20.09.2022 18:00, Abgeordnetenhaus, Casino
Herzlich willkommen im Landesparlament von Berlin. Ich freue mich sehr, Sie alle hier vor Ort zu der Ausstellungseröffnung von „BLICKWECHSEL – Ich zeig dir meine Welt.“ im Abgeordnetenhaus von Berlin begrüßen zu dürfen.
Meine Damen und Herren, man merkt es in diesen Tagen deutlich: Es wird Herbst in Berlin. Doch es wird wohl nicht der goldene Herbst, den wir uns alle herbeisehnen. Viele Menschen blicken derzeit mit großer Sorge auf die anstehenden kälteren Monate. Denn die Auswirkungen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine sind auch bei uns im Land angekommen. Die Heizungs- und Stromkosten steigen unaufhörlich, die Preise im Supermarkt ziehen weiter an - das alltägliche Leben zu finanzieren, ist und wird für viele Menschen in diesem Jahr eine Herausforderung sein.
Doch es gibt Menschen, für die sind die kalten Monate eine noch viel größere existentielle Bedrohung. Es sind die Menschen in unserer Stadt, die keine eigene Wohnung oder einen dauerhaften Zufluchtsort haben. Für Sie können die Herbst- und Wintermonate im wahrsten Sinne eine existentielle Gefahr sein - sie können lebensbedrohlich sein.
Hiervor dürfen wir die Augen nicht verschließen. Es kann und darf uns nicht gleichgültig sein, wenn Menschen auf der Straße oder im U-Bahnhof betteln, schlafen und frieren. Es darf uns nicht unbeteiligt lassen, dass sich immer mehr Menschen in den Notunterkünften und an den Essensausgaben drängen. Es darf uns nicht egal sein, dass die Zahl von Menschen ohne festes Dach über dem Kopf seit der Pandemie kontinuierlich steigt. Die neue Ausstellung, die wir in den kommenden Wochen im Abgeordnetenhaus zeigen werden, legt daher genau hierauf einen Fokus. Sie widmet sich dem wichtigen sozialen Thema Obdachlosigkeit.
In 2020 lag die Jahresgesamtzahl der wohnungslosen Menschen in Deutschland nach Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V. bei ca. 256.000 Menschen. Berücksichtigt man zusätzlich die Menschen, die als anerkannte Geflüchtete gelten, steigt die Zahl sogar auf insgesamt ca. 417.000 Betroffene an.
Statistisch im Übrigen kaum erfasst sind dabei die Menschen, die vorübergehend bei Verwandten oder Freunden unterkommen, in Billigpensionen oder auf der Straße leben. Es ist daher ein wichtiger und längst überfälliger Schritt, dass die Bundesregierung nun endlich eine bundesweite Datenerhebung über das Ausmaß und die Struktur von Wohnungslosigkeit auf den Weg gebracht hat und dabei auch diese Formen der Wohnungslosigkeit in den Blick nimmt. Mithilfe dieser Erkenntnisse können sozialpolitische Maßnahmen zur Bekämpfung der Wohnungslosigkeit noch zielgerichteter gestaltet werden.
Berlin ist als Metropole und Anzugspunkt für Menschen aus aller Welt vor besondere Herausforderungen gestellt. Um die großen Herausforderungen zu meistern, müssen Politik und Zivilgesellschaft gemeinsam an einem Strang ziehen. Das Land Berlin hat 2019 neue Leitlinien der Wohnungslosenhilfe und Wohnungslosenpolitik beschlossen. Sie geben allen involvierten Akteuren in unserer Stadt entsprechende Handlungsanleitungen zum Ausbau des Hilfesystems und zur Prävention gegen Wohnungslosigkeit.
Im Kern geht es vor allem um ein schnelles und koordiniertes Eingreifen der Behörden, um Wohnraumverlust und Räumungen möglichst zu verhindern.
Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf den Maßnahmen zur konkreten Bekämpfung von Wohnungslosigkeit. Diese reichen von der Umsetzung eines bezirksübergreifenden Fachstellenkonzeptes der Sozialen Wohnhilfen, über die Gewährleistung einer bedarfsgerechten Unterbringung im Rahmen einer gesamtstädtischen Steuerung, bis hin zum Ausbau des niedrigschwelligen Zugangs zu Hilfen und Notunterkünften. Grundlage bilden hier vor allem die bereits bestehenden Angebote wie zum Beispiel die Kälte- und Hitzehilfe für auf der Straße lebende Menschen oder die Angebote der Wohnungslosen- und Straffälligenhilfe, die Menschen wieder in die Regelversorgung integrieren will. Dazu gehören beispielsweise auch die Angebote der Straßensozialarbeit, der ambulanten medizinischen Versorgung und der Bahnhofsdienste.
Zudem wird das Land Berlin den relativ neuen sozialpolitischen Ansatz „Housing First“ weiter verfolgen und ausweiten. „Housing First“ geht davon aus, dass obdachlose Personen oder Familien zunächst eine Wohnung benötigen, um von dort aus andere Probleme anzugehen. Von 2018 bis 2021 wurden dazu zwei Modellprojekte „Housing First Berlin“ und „Housing First für Frauen Berlin“ erprobt, bei denen alleinstehende und langjährige obdachlose Frauen und Männer ohne Zugang zur Regelversorgung und mit dem Wunsch nach Unterstützung eine eigene Wohnung und ein wöchentliches Beratungsangebot in Anspruch nehmen konnten. Ich bin für diesen Schritt und für die bereits bestehenden und zahlreichen Angebote in unserer Stadt sehr dankbar. Denn nur mit einem breitaufgestellten Angebot an Unterstützung kann garantiert werden, dass jeder und jede Betroffene die Hilfe bekommt, die er oder sie benötigt. Es geht um den direkten Kontakt zu Betroffenen, der ihre Bedürfnisse in den Blick nimmt.
Genau da setzt auch das hier präsentierte Fotoprojekt an. Es geht nicht nur darum obdach- und wohnungslose Menschen zu zeigen, sondern darum mit ihnen wirklich ins Gespräch zu kommen. So unterschiedlich wie wir können auch die Wege sein, die Betroffene in die Obdach- oder Wohnungslosigkeit getrieben haben. Schärfen wir unsere Sinne dafür, dass wir es mit ganz individuellen Geschichten zu tun haben, die eine genauere Betrachtung verdient haben.
Ich bin froh, dass wir mit der Ausstellung „BLICKWECHSEL – Ich zeig dir meine Welt.“ einen Einblick in diese Geschichten bekommen können. Wieso rutschen Menschen in die Obdachlosigkeit? Wie sieht der Alltag ohne Wohnung aus? Und wie gelingt der Absprung von der Straße? Diese und weitere Fragen werden in der Fotoausstellung von der Fotografin Debora Ruppert aufgegriffen. In über 100 Begegnungen mit Menschen ohne Obdach hat sie Betroffene zu deren Alltagsgeschichten interviewt und porträtiert. Die Ausstellung zeigt zudem neun Porträts, die von den betroffenen Menschen von Berlins Straßen mit einer Einwegkamera selbstständig aufgenommen wurden. So haben auch sie die Chance, sich und ihre persönliche Lebenswelt auszudrücken.
Besonders im Fokus steht dabei auch der Umgang mit der Coronapandemie. Während den sogenannten „Lockdowns“ waren die Straßen wie leergefegt und nur wenige Menschen unterwegs. Viele Essensausgaben mussten ihr Angebot reduzieren und Duschräume geschlossen bleiben. Das Leben auf den Berliner Straßen ist noch härter geworden.
All dies verdeutlicht uns wie wichtig Zusammenhalt, Sympathie und Engagement sind, damit niemand in dieser Gesellschaft zurückgelassen wird. Ich möchte an dieser Stelle meinen aufrichtigen Dank an die vielen Ehrenamtlichen aussprechen, die sich in Krisenzeiten unermüdlich für andere einsetzen. Erst kürzlich konnte ich mir in der Bahnhofsmission am Ostbahnhof ein sehr eindrückliches Bild davon machen.
Ich weiß, dass Dank allein nicht reicht um die Missstände zu beheben. Deshalb möchte ich Ihnen als Präsident dieses Landesparlaments sagen, dass auch die Politik weiterhin aktiv bleiben wird und muss, diese Stadt für alle Menschen in unserer Gesellschaft lebenswert und besser zu gestalten. Wir wollen und dürfen niemanden ausschließen.
Ich möchte Ihnen Frau Debora Ruppert, als Fotografin, sowie dem Projekt:Kirche für diese gelungene Ausstellung herzlich danken. Weiterhin danke ich allen Unterstützerinnen und Unterstützern sowie den Kooperationspartnern und Kooperationspartnerinnen, die das Projekt möglich gemacht haben. Außerdem möchte ich Ihnen noch unseren Pianisten, Herrn Michael Nickel, vorstellen - vielen Dank für die musikalische Begleitung am heutigen Abend.
Ich freue mich auf die spätere Podiumsdiskussion „Zur Lebensrealität von Frauen ohne Obdach“ und möchte an dieser Stelle Frau Sandra Brunner als Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin und Vorsitzende des Ausschusses für Integration, Arbeit und Soziales, Frau Claudia Peiter als Leiterin von Evas Haltestelle, Frau Janita-Marja Juvonen als ehemalige Betroffene und Autorin des Blogs „Einmal Absturz und zurück“ sowie unserer Moderatorin Frau Meike Krüger recht herzlich für Ihre Teilnahme danken.
Bevor ich nun Frau Debora Ruppert für eine kleine Einführung nach vorne bitte, wünsche ich der Ausstellung zahlreiche Besucherinnen und Besucher hier im Abgeordnetenhaus und Ihnen, liebe Gäste, später viel Freude bei der Besichtigung in der Wandelhalle. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.