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Blick in den Plenarsaal und hauptsächlich die Flaggen für Deutschland, Berlin und Europa
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Rede der Präsidentin des Abgeordnetenhauses von Berlin, Cornelia Seibeld, anlässlich der Gedenkstunde zum 35. Jahrestag des Mauerfalls

07.11.2024 09:00, Abgeordnetenhaus, Plenarsaal

Aus der Retrospektive heraus betrachtet, erscheint eine bestimmte historische Entwicklung als geradezu zwangsläufig. Der Fall der Berliner Mauer und die Wiedervereinigung, scheinen solche Fälle zu sein. Doch weder der Mauerfall noch die Wiedervereinigung sind zwangsläufige Ereignisse der Geschichte, die sich einfach so ergeben haben. Der Fall der Mauer wurde entscheidend durch den Wunsch vieler Menschen in der DDR herbeigeführt, aus den Grenzen ihres Landes auszubrechen. Den Grenzen, die Ihnen intern bei Ihrer politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Betätigung durch die SED-Diktatur gesetzt wurden. Und den Grenzen hinsichtlich ihrer Reisefreiheit, die im Laufe des Jahres 1989 vom Regime immer enger gezogen wurden.

Der Freiheitswille der Menschen in der DDR war unverzichtbar. Es musste aber vieles zusammen kommen – auch außerhalb Deutschlands –, um ihm Geltung zu verschaffen. Immer gab es auch während des Kalten Krieges in Europa eine demokratische und rechtsstaatliche Alternative zur Einparteienherrschaft in den Staaten des Warschauer Paktes. Die westeuropäischen Staaten mit ihren offenen Gesellschaften mussten sich des beständigen politischen und militärischen Drucks der Sowjetunion erwehren.

Es war Helmut Schmidt, der als Bundeskanzler Ende der 70er Jahre erkannte, dass die vermehrte Aufstellung von atomar bewaffneten Mittelstreckenraketen des Typs SS 20 durch die Sowjetunion darauf abzielte, durch Drohungen mit ihrem Einsatz die Westeuropäer politisch erpressen zu können. An seinem Nachfolger, Helmut Kohl, lag es, die als Antwort vorgesehene Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen auch tatsächlich durchzuführen. Diese strategische Entscheidung, sich nicht militärisch erpressbar zu machen, eröffnete in der Folge neue politische Spielräume. Denn in der Sowjetunion wuchs der Bedarf nach Reform und Erneuerung.

Statt weiterhin die Ressourcen ganz wesentlich in neue Stufen der Aufrüstung zu lenken und die Freiheit der Informationen wie auch der wirtschaftlichen Eigeninitiative zu unterdrücken, bekamen Glasnost und Perestroika eine Chance. Und Verhandlungen zur Rüstungskontrolle. Das war neu. Der Wille zur Veränderung des sogenannten „real existierenden“ Sozialismus ging von der Sowjetunion aus.

Vielfach hatten die Völker Mittel- und Osteuropas nach dem II. Weltkrieg, nachdem sie unter die sowjetische Oberherrschaft gefallen waren, gegen die Fremdbestimmung und das oktroyierte politische System der Moskauer Statthalter rebelliert. Doch sie hatten jedes Mal gegen die brutale Unterdrückung verloren.

Mitten in Europa gab es einen Ort, an dem all dies sehr genau beobachtet wurde, wo sich die Einwohner nur allzu bewusst waren, wie gefährdet sie waren, ein ähnliches Schicksal zu erleiden. Im Westteil Berlins hatte man schon mit der Blockade durch die Sowjetunion 1948/1949 den Versuch eines diktatorischen Systems erlebt, eine demokratische Systemalternative auszumerzen. Die Mauer war dann der Versuch, die Abstimmung der Menschen mit den Füßen zu verhindern. Das bedeutete weitreichende Einschränkungen und Belastungen für die Menschen in West- und Ost-Berlin. Mit großer Zähigkeit passten sich die West-Berliner den widrigen Umständen an und hielten auf ihrer Insel aus.

Immer blieb West-Berlin der Inbegriff der Alternative, der Sehnsuchtsort und ganz konkret der Fluchtort für viele Menschen jenseits der Mauer. 140 an der Mauer getötete Menschen geben davon Ausdruck. Über viele Jahre waren die Bekundungen derjenigen Menschen in der DDR besonders eindrucksvoll, die alltäglich darauf bestanden, ihre Meinung zu äußern und auf ihrer Mitsprache zu bestehen. Sie waren der Sauerteig, der die Verhältnisse im Innern ins Gären brachte.

Unser heutiger Festredner, Rainer Eppelmann, war einer der Menschen, die unangepasst, ja widerständig waren. Schon als junger Mann hat er acht Monate im Gefängnis verbüßt. Er hatte den Wehrdienst bei der NVA verweigert und im Ersatzdienst als Bausoldat das Gelöbnis auf die DDR. Bei seiner Studien- und Berufswahl spielte die Einsicht eine Rolle, dass die Kirchen in der DDR der einzige Bereich waren, indem man in begrenztem Umfang freie Rede und demokratische Verhaltensweisen trainieren konnte.Als Pfarrer an der Samariterkirche in Friedrichshain – im Ostteil Berlins – veranstaltete er die legendären „Bluesmessen“, beherbergte einen Friedenskreis und verfasste zusammen mit Robert Havemann eine Friedensdenkschrift, den „Berliner Appell“. Und bei all seinen Aktivitäten stand er unter ständiger Überwachung und Bedrängnis durch die Staatsicherheit. Er ist ein Paradebeispiel für die ungeheure Dynamik, die sich im Herbst 1989 entwickelte. Innerhalb eines halben Jahres wurde aus dem oppositionellen Gemeindepfarrer der „Minister für Abrüstung und Verteidigung“.

Das hätte auch ganz anders kommen können. Noch im Juni 1989 protestierten in seiner Samariterkirche Oppositionelle mit einem Klagetrommeln gegen die blutige Niederschlagung der Demokratiebewegung in China. Wer in der DDR im Sommer und Herbst protestierte und gar öffentlich demonstrierte, der wusste, was ihm blühen konnte: Die „Chinesische Lösung“. Diese war von der SED-Führung und dem Scheinparlament Volkskammer ausdrücklich begrüßt worden, um „Ordnung und Sicherheit unter Einsatz bewaffneter Kräfte wieder herzustellen“. Nicht zuletzt deshalb wurde bei den Demonstrationen „Keine Gewalt“ skandiert.

Und wer weiß, wie sich die Dinge in der DDR entwickelt hätten, wenn nicht schon im Verlaufe des Jahres 1989 Ungarn, Polen und die Tschechoslowakei vorangegangen wären. Ohne ungarische Grenzöffnung, ohne Wahlsieg der Opposition in Polen, ohne Ausreise der Menschen aus der Prager Botschaft, was wäre passiert? Auf sich allein gestellt, wären die ostdeutschen Bürgerrechtler wohl in ihrer Wirkung begrenzt geblieben. Der friedliche Regimewechsel in Polen und die Ausreisen Zehntausender haben den Bürgern Mut gemacht, ihre Angst zu überwinden und zu Hunderttausenden auf die Straße zu gehen. Und doch mussten am Abend des 9. Oktober auf dem Ring in Leipzig bange Stunden überstanden werden, bis klar war, dass die Staatsmacht die Demonstranten nicht niederknüppeln oder gar erschießen würde.

Und am 9. November bedurfte es der Entscheidung eines Offiziers der Grenztruppen am Grenzübergang Bornholmer Straße, um im wahrsten Sinne des Wortes den Weg frei zu machen. Es musste vieles zusammen kommen. Es hätte auch alles anders kommen können. Der Mauerfall war deshalb auch ein Geschenk besonders glücklicher Umstände. Das sollten wir bei allen internationalen und nationalen Erdbeben, die wir gerade erleben, nicht vergessen!

Vielen Dank.