Grußwort des Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin Ralf Wieland zur Ausstellungseröffnung "Alltag Zwangsarbeit 1938 - 1945"
07.05.2013 19:00, Friedenskirche
- Es gilt das gesprochene Wort - „Zerstörte Vielfalt“ – das ist der Leitsatz Berlins mit Blick auf das Jahr 1933. Wir leben mittlerweile 80 Jahre nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler. Und noch immer erscheinen uns die Jahre 1933 bis 1945, die Deutschland, die Europa und die die Welt veränderten, so unbegreiflich nah. Das hat natürlich damit zu tun, dass in Deutschland in der besagten Zeit sämtliche Pfade einer zivilisierten, einer kultivierten Gesellschaft verlassen wurden. Jegliches Recht wurde abgeschafft, politisch Andersdenkende wurden verfolgt, gefoltert, inhaftiert, ja sogar brutal ermordet. Bücher wurden verbrannt, später dann auch Menschen vergast, nur weil sie Jüdinnen und Juden waren. Die Entgrenzung aller kulturellen und moralischen Werte – wie ist sie zu verstehen? Ist sie überhaupt zu verstehen? Vielleicht müssen wir am Ende eingestehen, das alles kann nicht verstanden werden. Das alles übersteigt das menschliche Maß an Verständnisfähigkeit. Und dennoch – es ist geschehen. Es war Wirklichkeit. Und es geschah in Deutschland. Es geschah in unserem Land. Die durch historische Feldforschung zusammengetragenen Fakten sind eindeutig. Es gibt keinen Spielraum an grundlegenden Interpretationsmöglichkeiten. Das, was in Deutschland geschah, war Barbarei im teuflischen Sinne: kulturverachtend, werteverachtend, menschenverachtend. So etwas hatte die Menschheit noch nicht gesehen und auch noch nicht erlebt. Was wir aufgrund unseres historischen Wissens tun können, ist wenig genug. Aber wir müssen Verantwortung übernehmen gegenüber allen, denen wir Unrecht getan haben – und ich bin froh, dass die Bundesregierung unter Bundeskanzler Schröder mit der deutschen Wirtschaft auch die Entschädigung der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter geregelt hat. Das hilft den Opfern nicht, ihre Traumata zu überwinden – wie auch? Aber es ist ein offizielles Zugeständnis zur deutschen Schuld. Das war bitter nötig, auch angesichts der vielen verflossenen Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Es wirkt auf den ersten Blick als etwas Beiläufiges, vielleicht sogar als Pflichtübung. Dabei ist sie etwas Wesentliches: unsere Erinnerungsarbeit, unsere Erinnerungskultur. Das belegt sehr eindrucksvoll als eine von vielen Einrichtungen die Stiftung Topographie des Terrors. Aber beileibe nicht nur sie. Auch wir als Berliner Abgeordnetenhaus stehen der Erinnerungskultur offen gegenüber. Ich möchte vor allem unseren German-Jewish History Award erwähnen, den wir jedes Jahr gemeinsam mit der amerikanischen Obermayer Stiftung ausschreiben. Mit diesem Preis werden Hobby-Forscher ausgezeichnet, die irgendwo in Deutschland wichtige historische Arbeiten und Projekte zur jüdischen Geschichte in Deutschland verfolgen. Im Januar fand die diesjährige Preisverleihung statt. Ausgezeichnet wurde auch ein historisch interessierter Mann aus Sachsen-Anhalt: Lothar Czoßek, aus Elsteraue / Rehmsdorf. Lothar Czoßek ist heute Rentner und seine Freizeit widmet er dem „Lager Wille“, einem Außenlager von Buchenwald, in dem Zwangsarbeiter untergebracht waren. Er hat Teile des Lagers als Gedenkstätte „wiederbelebt“ und erzählt die Geschichte des Lagers Wille und seiner Häftlinge im Rahmen einer Ausstellung. Er macht vom Konzept her das, was die Stiftung Topographie hier mit dem Lager Schöneweide ebenfalls verfolgt: Er erforscht die Geschichte von „unten“ am historischen Ort. Besonders beeindruckt hat mich seine Motivation zur Erforschung des Lagers Wille. Czoßek sah jeden Morgen, wie die Zwangsarbeiter durch das Dorf getrieben wurden – und abends ging es wieder zurück. Dieses Bild habe er sein Leben nicht vergessen. Diese ausgemergelten Menschen, von Schwerstarbeit im Steinbruch gezeichnet, ließen ihn nicht mehr los. Er machte sich später dann auf den Weg, die Geschichte des Außenlagers und die Biografien der Insassen zu erforschen. Dabei entstanden auch Freundschaften zu Zwangsarbeiterhäftlingen. Von fast 3000 Häftlingen, die das Lager „Wille“ durchliefen, überlebten ein paar hundert Menschen. Das macht die Dimension der Vernichtung durch Zwangsarbeit deutlich. Lothar Czoßek leistet Großartiges mit seiner historischen Erforschung des Lagers „Wille“. Was mich persönlich noch mehr berührt hat: Er bezieht eindeutig Position in der Frage: Was wussten wir Deutschen? Wir wussten es alle, ist sein Fazit. Gerade dieses Statement von Lothar Czoßek hat für mich etwas Befreiendes. Ich gehöre zu einer Generation, die die Großeltern fragen musste, um zu verstehen, was damals im sogenannten Dritten Reich geschah. Der Tenor vieler Antworten war: Aber wir wussten doch von nichts. Ich denke, solche entschuldigenden Reaktionen haben den Protest der sogenannten 68er im Rahmen der Studentenbewegung beflügelt. Aber sie lassen auch erahnen, wie wichtig Erinnerungsarbeit und Erinnerungskultur ist. Und je mehr die Zeit fortschreitet, je mehr Zeitzeugen sterben, umso wichtiger wird die Bewahrung dessen, was der historischen Wahrheit dient. Auch hier in Berlin gab es rund 3.000 Sammelunterkünfte für Zwangsarbeiterinnen und –arbeiter. Es fällt schwer, daran zu glauben, dass niemand von der Existenz der Zwangsarbeit wusste. Nein: Vielmehr ist es so, wie Frau Dr. Glauning zur Ausstellung schreibt: (Ich zitiere) Zwangsarbeit war ein Massenphänomen. Zwangsarbeit war allgegenwärtig.“ Bleibt mir noch der kleine Zusatz: Und wer wollte, konnte es auch sehen. Nur wer weiß, wo er herkommt, kann auch wissen, wo er hin möchte. Das ist aus meiner Sicht der tiefere Sinn der Erinnerungskultur. Und wie prägend dies sein kann, zeigt unser Land seit über 50 Jahren. Wir haben – wenn Sie so wollen – unsere Lektion gelernt. Wir haben verstanden, dass Deutschland in einem freien Europa als Partner viel besser aufgehoben ist. Wir haben verstanden, dass es Frieden nur im Gemeinsamen gibt und nicht im Gegensätzlichen. Wir haben verstanden, dass Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Krieg, Unterdrückung und staatlicher Terror keine Tugenden, sondern inhumane, die Gesellschaft zersetzende Untaten sind. Und deshalb gilt es, wachsam zu bleiben. Ermittlungspannen wie bei dem Nationalsozialistischen Untergrund hätten nicht passieren dürfen. Heute sind auch Menschen unter uns, die wir eingesperrt, gequält und bis zu deren Erschöpfung gepeinigt haben. Wir haben Ihnen viel Leid angetan. Ich finde es großartig, dass Sie die Kraft gefunden haben, heute hier bei uns zu sein. Mir ist bewusst, dass Sie natürlich nicht vergessen können, wie Sie durch Deutsche behandelt wurden. Und deshalb betrachte ich Ihren Besuch als nicht selbstverständlich. Sie sind gekommen, um uns die Hände zur Versöhnung entgegen zu strecken. Dafür bin ich Ihnen dankbar. Zeithistorisch gesehen, gibt es für mich eine wundervolle Entwicklungslinie, die wir uns öfter ins Gedächtnis rufen sollten. Nach 1945 haben uns unsere europäischen Nachbarn im Norden, Süden und Westen in ihre Mitte genommen, um mit uns ein gemeinsames Europa zu bauen. Das gilt – und das möchte ich besonders betonen – auch für unser Nachbarland Polen. Der Warschauer Vertrag von 1970 kann sehr wohl als ein Meilenstein neuer Beziehungen zwischen Deutschland und Polen bezeichnet werden. Wie groß war der Schatten in diesen Nationen, den sie überspringen mussten? Ich denke, er war übergroß. Sie sprangen trotzdem. Nur deshalb haben wir zusammen eine Europäische Gemeinschaft aufgebaut, die uns allen eine neue Perspektive gibt: in politischer, in wirtschaftlicher, in sozialer und in kultureller Hinsicht. In einer einzigartigen europäischen Gemeinschaftsarbeit haben wir die verstreuten Puzzle-Teile der „Zerstörten Vielfalt“ wieder aufgelesen und neu zusammengefügt. Darauf können wir in Europa besonders stolz sein. Ja, und wir Deutschen sind sehr dankbar, dass wir diese neue Chance bekommen haben. Im Namen des Berliner Abgeordnetenhauses möchte ich nun viele gute Wünsche überbringen, die hoffentlich zum Erfolg der Dauerausstellung zum Thema „Zwangsarbeit“ beitragen werden. Ein weiterer wichtiger Baustein der einst „Zerstörten Vielfalt“ wird durchleuchtet. Deutlich wird damit: So etwas darf nie wieder geschehen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.