Gedenkworte des Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin Ralf Wieland zum 9. November 1938 und zum Anschlag auf die Synagoge von Halle
31.10.2019 10:00, Abgeordnetenhaus
In wenigen Tagen ist der 9. November. Ein ambivalenter Tag in unserer Geschichte. Freude und Leid sind mit diesem historischen Tag verbunden. 1918 etablierte die damalige Revolution die erste Demokratie in Deutschland. Dann die Nacht des 9. Novembers 1989, die gleichzeitig der letzte Tag der SED-Diktatur war. Das war auch Wendepunkt in der Geschichte unserer Stadt, unseres Landes, aber ebenso für die Befreiung unserer östlichen Nachbarn. Es gab aber eben auch den 9. November 1938: Den nationalsozialistischen Terror gegen Juden und deren Geschäfte wie Synagogen, den viele Bürgerinnen und Bürger fast teilnahmslos hinnahmen. Oder was noch schlimmer war: Aktiv unterstützten.
Ein absoluter Tiefpunkt in der deutschen Geschichte einer einst humanistischen Gesellschaft, die stolz auf sich war. Auch heute stellen wir wieder fest, dass sich ein mittlerweile offener Antisemitismus breit macht und das jüdische Leben in unserem Land zunehmend infrage stellt. Es muss erschrecken, wie viele Menschen selbst heute noch – oder wieder - eine antisemitische Grundhaltung haben. Menschen offenbar, die ein Feindbild brauchen, um so im Zweifel von eigenen Frustrationen, vielleicht auch von erlebten Ungerechtigkeiten abzulenken. Die ein Feindbild brauchen, um eigene Minderwertigkeitskomplexe zu kompensieren. Ihnen möchten wir sagen, wir Demokraten dulden keinen Antisemitismus, aber auch keinen Rassismus in unserem Land, in unserer Stadt. Das müssen wir Demokraten auch durchsetzen. Wir haben die Gesetze dazu. Wir müssen eben nur konsequenter werden in der Anwendung dieser Gesetze. Diese Lehre haben wir vor gar nicht so langer Zeit eigentlich schon einmal gezogen: Das war nach den Morden des NSU.
Jetzt nach dem Anschlag auf die Synagoge von Halle stehen wir wieder da und sind überrascht über die Auswüchse des rechtsextremistischen Terrors. So kann es sicher nicht weitergehen. So darf es nicht weitergehen. Wir müssen die Sicherheitsprobleme massiv angehen. So wie wir gegen die Clan-Kriminalität vorgehen, so müssen wir auch die rechtsextremistischen Netzwerke unter Druck setzen. Und das nicht nur auf dem Papier, sondern Tag für Tag in der Wirklichkeit, auch in den sozialen Medien. Die Feinde der Demokratie dürfen sich einfach nicht in Sicherheit wiegen.
Meine Damen und Herren, die Jüdinnen und Juden in der Synagoge von Halle haben Glück gehabt. Sie sind einem Massaker entkommen. Das wissen wir alle. Trotzdem gab es Verletzte und zwei Todesopfer, um die wir trauern. Auch ihr Schicksal dürfen wir nicht vergessen. Denn politisch motivierte Gewalt bedroht uns alle. Wir wissen: Eine Demokratie, die nicht mehr die Minderheiten im Land schützt, sie zerstört sich selbst. Und deshalb ist es so wichtig, dass wir Demokraten aufstehen und strikte Grenzen ziehen. Je länger wir damit warten, umso stärker werden die Feinde unserer freien Gesellschaft. Das dürfen wir Demokraten auf keinen Fall zulassen. Der 30. Januar 1933 sollte uns Mahnung genug sein. Einen 9. November 1938 darf es nie wieder geben. Auch nicht in Ansätzen. Das sollte unser politischer Anspruch in diesem Parlament sein. Nur wenn wir diesem Anspruch gerecht werden, kann der 9. November nicht nur ein Tag der Trauer und Erinnerung sein. Sondern auch ein Tag der Freude über das Gelingen der Friedlichen Revolution.