Gedenkworte des Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin Dennis Buchner zum Anschlag in Berlin
09.06.2022 10:00, Abgeordnetenhaus, Plenarsaal
Es ist Frühsommer in Berlin und wir alle nehmen in unserer Stadt gerade jeden Tag wahr: Es sind Hunderte Gruppen junger Menschen unterwegs, auch hier um und im Abgeordnetenhaus. Von der Grundschulklasse bis zum Abschlussjahrgang. Unzählige Schulen holen endlich das nach, was während der Pandemie unmöglich war. Endlich kehrt ein Stück Jugend und Freiheit zurück – für die Kinder und Jugendlichen selbst, aber auch nach Berlin.
In unsere Stadt, die für so viele Menschen und insbesondere Jugendliche ein Sehnsuchtsort ist. Auch für die Klassenfahrt, für die Kursfahrt oder für ein paar unbeschwerte Tage mit Freundinnen und Freunden. Tage, die auch eine zehnte Klasse mit ihren Lehrinnen und Lehrern aus Nordhessen bei uns verbringen wollte.
Meine Damen und Herren, es ist vielleicht die größte Angst, die uns allen innewohnt, plötzlich und unerwartet vom Unglück, im schlimmsten Fall sogar vom Tode, eines geliebten Menschen zu erfahren. Für viele Familien ist diese Angst gestern bittere Realität geworden. Wir sind in unseren Gedanken bei den Angehörigen der getöteten Lehrerin. Ein geliebter Mensch wird nicht mehr zurückkommen. Wir bangen und hoffen mit dem schwer verletzten Kollegen, den verletzten Schülerinnen, Schülern und den weiteren Verletzten. Wir denken und fühlen jedoch auch mit all denen, die am gestrigen Tag direkte Zeuginnen und Zeugen dieser Tat sein mussten. Denn wir alle wissen: Es sind nicht nur die körperlichen Wunden, die heilen müssen.
Es tut mir leid, dass wir Sie selbst und dass wir die von Ihnen geliebten Menschen in unserer Stadt nicht vor dieser Tat schützen konnten. Und es lässt viele von uns auch mit einem Gefühl von Ohnmacht zurück. Denn wir wissen, dass es auch in Zukunft in einer freien Gesellschaft keine hundertprozentige Sicherheit geben kann.
Doch gerade diese freie Gesellschaft allein kann uns den Halt geben, den wir in diesen schweren Momenten benötigen. Nur wenn wir zusammenhalten, wenn wir uns solidarisch verhalten, dann können wir das große Leid etwas erträglicher machen. Das Mitgefühl, das tröstende Wort, die helfende Hand, vielleicht auch die materielle Unterstützung in der Not: Das ist der Kitt für eine Gesellschaft, die zusammenhält.
Im Namen des Abgeordnetenhauses von Berlin danke ich allen, die gestern in kürzester Zeit am Einsatzort waren und geholfen haben: den Ersthelferinnen und Ersthelfern, den Sanitätskräften, den Ärztinnen und Ärzten, der Feuerwehr, der Polizei, den Seelsorgerinnen und Seelsorgern und auch der Gedächtniskirche und ihrer Gemeinde, die den ganzen Tag Zufluchtsort war und eine gemeinsame ökumenische Andacht organisiert hat. Ich danke auch den Verantwortlichen im Senat, die alles getan haben, um die Lage zügig und besonnen zu evaluieren und gezielte Hilfen zu organisieren. Insbesondere bedanke ich mich, dass viele Kinder und ihre Eltern noch gestern zusammengebracht werden konnten und auch für eine erste psychologische Betreuung der Jugendlichen durch unsere Schulpsychologinnen und -psychologen gesorgt wurde.
Meine Damen und Herren, vieles spricht knapp 24 Stunden nach der Tat für einen Akt sinnloser Gewalt eines psychisch Erkrankten, aber noch wissen wir nichts Genaueres. Spekulationen und Analysen ohne eine solide Faktenlage bringen uns nicht weiter, erst recht nicht in einer solchen Situation.
Und deshalb ist heute und hier im Parlament die Stunde der Anteilnahme und nicht die Stunde der politischen Debatte. Wir haben jedoch mit allen Fraktionen dieses Hauses verabredet, dass Frau Senatorin Spranger uns im Rahmen der Fragestunde ausführlich zu den aktuellen Erkenntnissen informieren wird. Viele von uns erinnert das Geschehen vom gestrigen Vormittag an die Tat, die Berlin vor fünf Jahren so hart getroffen hat. Auch wenn das Motiv des Attentäters vom Breitscheidplatz, der 13 friedliche Menschen auf dem Weihnachtsmarkt ermordete und fast 70 weitere verletzte, ein anderes zu sein scheint. Diese Bilder sind gestern in vielen wieder wach geworden. Die Geschehnisse bewegen uns bis heute.
Andere Menschen mussten gestern Dinge erleben und beobachten, die sie nicht vergessen werden. Sie haben Verletzungen erlitten, von denen sie sich vielleicht nicht oder nur langsam erholen werden. Eine Frau hat ihr Leben verloren. Und auch wo körperliche Wunden heilen, werden Narben auf der Seele bleiben. Sie alle sollen wissen: Sie sind nicht allein. Das Parlament, die Regierung und die Menschen unserer Stadt sind für Sie da. Nicht nur mit Gedanken und Gebeten. Sondern mit tatkräftiger Unterstützung. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!