Gedenkwort des Präsidenten des Berliner Abgeordnetenhauses Ralf Wieland zur Gedenkveranstaltung „70. Jahrestag Warschauer Ghetto“
08.04.2013 19:00, Jüdisches Gemeindehaus
. Ich gehöre einer Politikergeneration an, die im Nachkriegs-Deutschland geboren wurde und aufwuchs. All das, was an Ungeheuerlichkeiten von Deutschland seit Januar 1933 initiiert wurde, all das, was im deutschen Namen geschah und unseren europäischen Kontinent in ein Schlachtfeld verwandelte. Ja, all das kenne ich aus dem Geschichtsbuch und Geschichtsunterricht, zum Teil aus Erzählungen meines Großvaters. Der arbeitete als Werftarbeiter in der Bretagne, dort, wo die deutschen U-Boote im Zweiten Weltkrieg Stützpunkte hatten.
Der Krieg, der Holocaust, die inhumanen Auswüchse der nationalsozialistischen Diktatur – für diese Ereignisse hatte ich als Kind aus dem Jahrgang 1956 keinen Zugang. In meinem noch jungen Bewusstsein war Deutschland ein ganz normales Land. Die Menschen gingen zur Arbeit, sie organisierten ihr noch keineswegs komfortables Leben. Der Mangel bestimmte noch den Rhythmus des Alltags. Es mag sein, dass bei Familientreffen und –unterhaltungen auch über das Geschehen von 1933 bis 1945 geredet wurde. Wir Kinder blieben dabei außen vor. Und so kann ich für mich sagen: Ich wuchs als Kind recht unbekümmert auf. Weithin sorgenfrei, behütet und geschützt.
Später lernte ich: Millionen Menschen hätten sich ein derartiges Leben in Deutschland zwischen 1933 und 1945 gewünscht. Sorgenfrei, behütet und geschützt. Und Millionen friedfertiger Menschen in anderen Ländern auch.
Dass es ein ganz anderes Deutschland gab als das, in dem ich aufwuchs, das wurde mir am 7. Dezember 1970 klar. Damals war ich noch dreizehn, fast 14 Jahre alt. Ein Foto ging um die Welt – ein Foto, auf dem unser damaliger Bundeskanzler Willy Brandt kniete. Es war in Warschau aufgenommen, anlässlich seines Staatsbesuchs in Polen. Willy Brandt kniete vor dem Warschauer Denkmal für die Opfer des Ghetto- Aufstands.
Ich konnte damals die Zusammenhänge dieser Geste nicht sofort verstehen. Das begriff ich erst später. Ein deutscher Bundeskanzler, der selbst vor den Nazis ins Exil geflohen war, entschuldigte sich bei Opfern deutscher Barbarei für das Geschehene. Er kniete demütig, er übernahm historische Verantwortung. Das war die Botschaft, die alle, die es verstehen wollten, auch verstehen konnten. Er tat es in Polen, jenem Land, das Hitler 1939 zuerst von der deutschen Wehrmacht überfallen ließ. Und er tat es in Warschau, der Stadt, in der am Ende der 1930er Jahre die meisten Juden auf dem europäischen Kontinent lebten. Sie wurden damals ab 1940 von Deutschen mit Gewalt in ein Ghetto gezwängt, und mussten unter katastrophalen, menschenunwürdigen Umständen dort leben: entehrt, entrechtet, geschunden.
Wir verdanken Marcel Reich-Ranicki tiefe Einblicke in den Alltag des Ghetto-Lebens. Zum einen durch seine Autobiografie „Mein Leben“. Und durch die bewegende Rede im Deutschen Bundestag während des Tag des Gedenkens im letzten Jahr. Was bis heute bleibt in meiner Generation, und auch bei den noch jüngeren Deutschen, ist überwiegend stilles Entsetzen. Es ist einfach nicht zu verstehen, dass im deutschen Namen derart Ungeheuerliches geschehen konnte wie die Judenverfolgung und –vernichtung. Und auch wenn es stimmt, dass die Nachkriegs-Generationen keine Schuld auf sich geladen haben, so bleibt doch die historische Verantwortung bestehen. Für uns alle – gestern, heute, und auch morgen.
Doch wie können wir dieser historischen Verantwortung gerecht werden? Ich denke, ein wichtiger Baustein ist und die bleibt die Erinnerungskultur in ihren unterschiedlichen Facetten. Denn die Botschaft kann immer wieder nur sein: das wurde im Namen unseres Landes einst getan. Das ist das Leid, dass etlichen Millionen Menschen zugefügt wurde. Das waren wir Deutsche, wenn auch vor längerer Zeit. Und auch kein Hinweis auf „die Gnade der später Geburt“ hilft da weiter. Es bleibt eine Last der historischen Verantwortung. Und sie bleibt bestehen, weil wir Geschichte nicht einfach ungeschehen machen können.
Zur Erinnerungskultur gehört ebenso die historische Bildungsarbeit für die heute jungen Schülerinnen und Schüler. Da gibt es eine Menge Engagement: Projekt-Wochen mit eigenen Nachforschungen, Gedenkstättenfahrten zu ehemaligen Konzentrationslagern, Zeitzeugen-Gespräche, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Und auch im Abgeordnetenhaus sind wir nicht untätig. Zum Tag der Opfer des Nationalsozialismus gibt es unsere Veranstaltung „denk!mal!“, die sich an Jugendliche richtet und von ihnen gestaltet wird.
Vielfach herrscht aber auch ein Nichtwissen vor, das durchaus einen neuen Nährboden für Antisemitismus bilden kann. Es reicht natürlich nicht aus, das zu tadeln. Vielmehr brauchen wir eine Strategie zur Vermeidung von Antisemitismus. Und die muss schon spätestens in den Schulen greifen. Denn auch dort gibt es wieder – und das ist die Kehrseite - klischeehafte Judenbilder. „Du Jude“ ist zum Beispiel auch an einigen Schulen unter Schülern ein gängiges Schimpfwort geworden.
Wenn eine neue Studie im Auftrag des Bundesministeriums des Innern zum Antisemitismus feststellt, dass knapp 20 Prozent der Bevölkerung in Deutschland zumindest latent antisemitisch seien, dann kann ich nur sagen: das können wir Politikerinnen und Politiker in Deutschland nicht einfach so hinnehmen. Wir müssen aufpassen. Und ich möchte dabei durchaus selbstkritisch sein. Wir sind im politischen Raum, aber auch in unseren Parlamenten häufig zu selbstgefällig, weil wir unsere demokratischen Zustände als selbstverständlich ansehen. Sie sind es aber nicht. So haben wir unter der Oberfläche häufiger schon radikale Entwicklungen zur Kenntnis nehmen können, die eindeutig antidemokratische Züge trugen. Und dann waren wir alle zusammen überrascht, wie zum Beispiel jetzt, wo uns das Ausmaß des rechten Terrors im Zusammenhang mit den NSU-Morden deutlich wird.
Wenn wir darüber sprechen, wie es sein konnte, dass ein scheinbar zivilisiertes Volk wie das deutsche Volk einen derartigen Genozid planen und umsetzen konnte, dann stellt sich ein Gefühl der Ohnmacht ein. Jedenfalls bei mir. Was ging in den Köpfen der Täter vor? Wie fühlten die Opfer?
Die Bewohner des Warschauer Ghettos fühlten ganz sicher auch Ohnmacht angesichts der Bedrohung und der Gewalt, die übermächtig war. Jeder Widerstand schien zwecklos. Und dennoch suchten viele Juden im Ghetto den Kampf gegen die Deutschen, einen bewaffneten Aufstand, der vor siebzig Jahren stattfand und an den wir heute gedenken. Warum taten sie es?
Paul Spiegel hat für mich die überzeugendste Antwort gegeben. Er sagte hier an dieser Stelle vor 10 Jahren – und ich zitiere: „Jeder der Ghettokämpfer wusste, dass es nichts zu gewinnen gab außer den Tod. Doch diese Juden wollten sich ihren Tod erkämpfen. Sie wollten sich zumindest eine Art letztes menschliches Recht vorbehalten: zu bestimmen, wie sie sterben müssten: als freie Menschen.“
Sie starben erhobenen Hauptes, wenn man so will. Ich kann Ihren Stolz auf diese Frauen und Männer nachvollziehen. Auch der deutsche Widerstand gegen den Nationalsozialismus war zwecklos. Nur allein, dass es ihn gab, schürte die Hoffnung auf Rückkehr in eine zivilisierte Welt. Sie sollte sich erfüllen. Für uns alle.