Gedenkveranstaltung zum 70. Jahrestag der Deportation der Berliner Sinti und Roma in das Zwangslager Marzahn
06.05.2008 19:30, Abgeordnetenhaus von Berlin
Walter Momper 14.06.2006, Abgeordnetenhaus von Berlin, Plenarsaal
Rede des Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin, Walter Momper, anlässlich der Gedenkveranstaltung zum 70. Jahrestag der Deportation der Berliner Sinti und Roma in das Zwangslager Marzahn am Mittwoch, den 14. Juni 2006 um 18.00 Uhr im Plenarsaal
- Es gilt das gesprochene Wort -
Es ist für mich heute eine Freude und Ehre, Sie hier im Abgeordnetenhaus von Berlin begrüßen zu dürfen. Ihnen allen gilt mein Dank dafür, dass Sie gekommen sind, um an den 70. Jahrestag der Deportation der Berliner Sinti und Roma in das Lager Marzahn zu erinnern und der deportierten und ermordeten Opfer zu gedenken.
Als ich mich auf den heutigen Abend vorbereitet habe, habe ich als erstes an Otto Rosenberg gedacht. Mit ihm war ich 1985 auf einer Gedenkstättenfahrt der Berliner SPD nach Auschwitz. In Birkenau zeigte er mir das sogenannte Zigeunerlager, in dem er und seine Familie gewesen waren. Er hatte geweihtes Wasser aus der Heimat mitgebracht. Er und sein Cousin beteten zum Gedenken für die ermordeten Mitglieder seiner Familie und die anderen Opfer. Dieser Besuch im Zigeunerlager hat mich tief bewegt. Otto Rosenbergs Erzählungen über die Drangsalierung durch die Nazis und das Leben in Birkenau sowie das Schicksal seiner Familie haben mich geprägt. Otto Rosenbergs Schicksal und sein Leben sind für mich - und ich denke für uns alle - bleibende Verpflichtung, dass sich eine Gewaltherrschaft, wie die der Nazis, niemals wiederholen darf. Und dass es unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit ist, immer und überall Diskriminierung und Fremdenhass die Stirn zu bieten und für Toleranz und für ein friedliches Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Religion, Herkunft, Nationalität und persönlicher Orientierung einzutreten und - wenn nötig - auch zu kämpfen.
Was im Zwangsarbeiterlager Marzahn tatsächlich geschah, welche Hölle es gewesen sein muss, dort auf engstem Raum zusammengepfercht unter unbeschreiblichen hygienischen Verhältnissen leben zu müssen und täglich von den Bewachern drangsaliert zu werden, das übersteigt wohl die Vorstellungskraft der Nachgeborenen.
Wir gedenken heute der Ereignisse des Juni und Juli 1936, als für die Berliner Sinti und Roma der leidvolle Weg begann, der für die meisten im Konzentrationslager Auschwitz mit der Ermordung endete. Wir trauern um die Menschen, die der fanatischen Rassenideologie der Nationalsozialisten und der Politik des Deutschen Reiches zum Opfer fielen. Es ist leider so, dass der Genozid an den Sinti und Roma bis heute nicht im gesellschaftlichen Bewusstsein als der Völkermord begriffen wird, der er war.
Am 5. Juni 1936 unterzeichnete der nationalsozialistische Reichsinnenminister Wilhelm Frick einen Runderlass, der die sogenannte 'Bekämpfung der Zigeunerplage' zum Inhalt hatte. Im Vorfeld der Olympischen Spiele im August 1936 in Berlin sollte die Reichshauptstadt 'zigeunerfrei' sein. Deshalb erhielt der Berliner Polizeipräsident den Auftrag, einen 'Landesfahndungstag nach Zigeunern' festzusetzen. Alle Sinti und Roma, derer man habhaft werden konnte, wurden verhaftet und außerhalb Berlins in der Nähe des damaligen Dorfes Marzahn auf einem ehemaligen Rieselfeld in einem Lager zusammengetrieben. Schon die Bestimmung des Ortes war schikanös und entwürdigend. Obwohl es sich dabei nicht um ein KZ handelte, war ein Entkommen für die Gefangenen nicht möglich.
Dieses Vorgehen entbehrte jeder Rechtsgrundlage, aber die Handlanger der nationalsozialistischen Diktatur konnten sich der Zustimmung der Mehrheit der Bevölkerung sicher sein, denn die Entrechtung und Verfolgung der Sinti und Roma bestätigte traditionelle Vorurteile, die damals allgemein gängig waren und ein langes Leben bis in unsere Tage haben. Archaische Vorurteile und die Stigmatisierung einer kulturellen Minderheit, deren Lebensformen und Kultur man nicht verstand, führten zu Entrechtung und Diskriminierung durch Zwangsarbeit.
Das Zwangslager hatte - wie gesagt - keine Rechtsgrundlage. Die grundsätzliche Feindschaft der Nationalsozialisten gegen alle Prinzipien des Rechtsstaates manifestierte sich in der Instrumentalisierung der Justiz zu politischen Zwecken. Die Rechtsordnung wurde systematisch zerstört und die konservative Justiz war nur allzu gern bereit, sich anzupassen. Die Sinti und Roma gehörten zu den inneren Feinden des Regimes. Polizei und Justiz ließen sich für die Rassenpolitik der Nazis instrumentalisieren. Staatspolizeiliche Aktionen waren seit 1936 grundsätzlich der richterlichen Nachprüfung entzogen.
Die heutige Gedenkveranstaltung ist nicht nur Teil unserer Erinnerung, ist nicht allein Trauer um die Toten. Das Zwangsarbeiterlager Marzahn ist ein Symbol für die Ausgrenzung und Verfolgung ethnischer Minderheiten.
Und die Ausgrenzung und Erniedrigung der Sinti und Roma setzte sich auch nach dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft fort. Die 'Zigeuner', wie die Sinti und Roma weiterhin abwertend und diskriminierend genannt wurden, blieben von der sogenannten Wiedergutmachung überwiegend ausgeschlossen. Ein unsägliches Urteil des Bundesgerichtshofes vom 7. Januar 1956 urteilte, dass die Sinti und Roma an der Verfolgung durch die Nazis selbst Schuld seien. 'Die Angehörigen dieses Volkes besonderen Beschränkungen zu unterwerfen', so der BGH sei rechtens, wegen der - wieder Originalton BGH - 'asozialen Eigenschaften der Zigeuner'. Erst 1969 wurde das Urteil abgemildert. Ausländische Sinti und Roma haben übrigens bis heute keine Entschädigung erhalten. - Heute ist es für die Betroffenen zumeist wirklich zu spät.
Erst die Bundesregierung Helmut Schmidt 1982 und Bundespräsident Roman Herzog in einer Rede 1997 haben den Mord an den Sinti und Roma klar und ohne Einschränkung als Völkermord aus Rassenwahn bezeichnet. Und deshalb muss auch an diesen Völkermord durch ein würdiges Denkmal in der Mitte Berlins erinnert werden. Das wird nach allem Streit nun hoffentlich bald realisiert werden.
Das Zwangsarbeiterlager Marzahn ist für uns zugleich Mahnung und Verpflichtung, Rassismus - in welcher Form er auch immer auftreten mag - klar zu benennen und zu bekämpfen.
Rassistische Verhaltensweisen gibt es in Berlin leider auch heute noch, und auch noch gegen Sinti und Roma. In einem kleinen Teil der Bevölkerung sind immer noch latent rassistische Vorurteile vorhanden. Es sind verbale Angriffe in Alltagssituationen, es kommt gelegentlich aber auch zu körperlicher Gewalt. Diese rassistischen Attacken sind auch leider nicht auf rechtsextrem orientierte Jugendliche begrenzt. Auch Erwachsene beteiligen sich an derartigen Beschimpfungen. Für die Opfer heißt das, dass sie sich in ihrer Lebensplanung und in ihrer Lebensqualität eingeschränkt fühlen und fühlen müssen.
Wenn die Kinder von gewerbetreibenden Sinti und Roma, die sich einige Monate in Berlin aufhalten, Schwierigkeiten haben in einer ganz normalen Schule aufgenommen zu werden, um ihrer gesetzlichen Schulpflicht nachzukommen, dann ist das eine schwer zu begreifende Absonderung. Diese Kinder müssen in Wannsee in die eigene Schule in Containern auf dem Parkplatz am Zehlendorfer Kleeblatt gehen. Warum, frage ich. Auch diese Diskriminierung muss endlich beendet werden.
In Berlin darf es keinen Platz für Absonderung, Ausländerfeindlichkeit und Rassismus geben. Gedenken und Erinnerung sind wichtig, aber noch wichtiger ist es, die Gegenwart für alle Menschen, die in Berlin und in Deutschland leben möchten, mit Menschlichkeit, Wärme und Toleranz zu erfüllen.
Das ist unser Auftrag. Das sind wir den Verfolgten, wie Otto Rosenberg, und den Opfern schuldig. Das ist unsere Verpflichtung.
In diesem Sinne: Danke, dass Sie alle heute hier sind.
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