Gedenkrede des Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin Dennis Buchner, Gedenkveranstaltung Gleis 17
19.10.2022 12:00, Bahnhof Grunewald
Auch wenn viele Berlinerinnen und Berliner es nicht vor Augen haben: der 18. Oktober ist ein denkwürdiger Tag in der Berliner Geschichte. Es war der 18. Oktober 1941 - gestern vor 81 Jahren, als die Deportationen in Berlin begannen. Von diesem Gleis des Bahnhofs Grunewalds aus - und später auch von anderen Orten in der Stadt - wurden Tausende jüdische Kinder, Frauen und Männer, aber auch Sinti und Roma in die von Deutschen errichteten osteuropäische Ghettos und Konzentrationslager verschleppt. Damit markiert der 18. Oktober einen wirklich dunklen Fleck auf dem Zeitstrahl der Berliner Geschichte. Einen Fleck, der sich nicht mehr entfernen lässt.
Es wäre fatal, sich dieser unendlich traurigen Geschichte nicht zu stellen. Wir sind es vor allem den Millionen getöteten Jüdinnen und Juden schuldig. Aber auch uns allen - als Nachfahren, aber auch als Menschen mit Moral sollte es eine ewig währende Mahnung sein. Ich weiß, es gibt immer noch Leugner dieser deutschen Geschichte. Das ist in keiner Weise zu akzeptieren. Ich weiß aber auch, dass es viele Menschen gibt, welche die Gnade der späteren Geburt als Ausrede benutzen, um sich dem Thema des Holocaust nicht stellen zu müssen. Dabei geht es heute gar nicht mehr vorrangig um Schuld. Wie auch - sind doch mittlerweile fast alle Menschen nach dem zweiten Weltkrieg geboren oder waren zumindest in der Zeit des Nationalsozialismus noch jung. Worum es geht, ist jedoch recht klar: Wir dürfen die grausamen Phasen unserer Geschichte nicht vergessen und viel wichtiger: Wir müssen daraus lernen.
Wir haben eine historische Verantwortung: So etwas wie der systematische Völkermord an den sechs Millionen europäischen Jüdinnen und Juden darf sich nie mehr wiederholen. Es mag am Ende nicht viele Lehren aus der Geschichte geben. Aber diese, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist ganz gewiss eine. Mit dem 30. Januar 1933, mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten, endete auch in Berlin eine bis dato einmalige und dennoch auch fragile Phase des friedlichen und fruchtbaren Zusammenlebens von Juden und Nichtjuden in unserer Stadt. Berlins Rolle als pulsierende Metropole der 1920er Jahre war ohne seine lebendige jüdische Gemeinschaft nicht denkbar. Mit über 160.000 Mitgliedern war sie die größte in Deutschland. Berlin als Laboratorium der Moderne hätte es ohne jüdische Teilhabe nicht gegeben. Damit ich nicht falsch verstanden werde: Antijüdische Gefühle gab es auch in den besten Zeiten der Weimarer Republik. So hat es wiederholt brutale öffentliche Angriffe gegen jüdische Menschen gegeben. Und dennoch kann man sagen: In dem Jahrzehnt zwischen 1920 und 1930 konnten sich Jüdinnen und Juden so gut in die Berliner Gesellschaft integrieren wie kaum jemals zuvor. Es herrschte eine fast schon natürliche Offenheit der jüdischen Gemeinschaft gegenüber.
Doch spätestens die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 und die folgenden Tage waren ein absoluter Tiefpunkt für dieses friedliche Zusammenleben in Deutschland. Die sogenannten Judenpogrome stehen für die endgültige gesellschaftliche Ausgrenzung auch der Berliner Jüdinnen und Juden aus der städtischen Gesellschaft. Es waren offene Gewaltszenarien in einem bislang unbekannten Ausmaß.
Es war dann der Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941, der den Beginn des Holocaust im Osten und den Auftakt für die Verschleppung der jüdischen Menschen aus Deutschland markiert. Am 15. Oktober 1941 begannen die systematischen Deportationen aus dem Deutschen Reich in den Osten. Sie führten in das Ghetto Lodz im besetzten Polen. Dort waren zu diesem Zeitpunkt weit über 100.000 polnische Frauen, Männer und Kinder unter katastrophalen Bedingungen eingesperrt.
Der vierte Transport aus dem Deutschen Reich startete dann am 18. Oktober 1941, gestern vor 81 Jahren, von diesem Bahnhof, dem Bahnhof Grunewald aus und führte ebenfalls nach Lodz. Über 60 Transporte folgen bis in das Frühjahr 1945 hinein – nach Minsk, Kaunas, Riga, Theresienstadt, Auschwitz, um nur einige der Orte des Leidens und Mordens zu nennen. Die einzelnen Daten und die Zahl der jeweils verschleppten Menschen können hier, am Gleis 17, nachvollzogen werden.
Es ist wichtig, dass unsere Stadt und unsere vielfältige, vielstimmige Stadtgesellschaft sich dieses Verbrechens und auch des ungeheuren menschlichen wie kulturellen Verlusts bewusst bleibt – dass Erinnerung wie mit dieser Gedenkstunde gelebt wird und dass das wiedererstandene lebendige jüdische Leben als eine Selbstverständlichkeit - vielmehr: als Bereicherung - angesehen wird. Wir müssen uns immer wieder selbst vergewissern, dass in Deutschland zwischen 1933 und 1945 sämtliche Pfade einer zivilisierten, einer kultivierten Gesellschaft verlassen wurden. Jegliches Recht wurde abgeschafft, politisch Andersdenkende wurden verfolgt, gefoltert, inhaftiert, ja sogar brutal ermordet. Bücher wurden verbrannt, später dann auch in unvorstellbaren Dimensionen Menschen vergast, nur weil sie Jüdinnen und Juden waren.
Diese Entgrenzung aller kulturellen und moralischen Werte – wie ist sie zu verstehen? Ist sie überhaupt zu verstehen? Vielleicht müssen wir am Ende eingestehen: das alles kann nicht verstanden werden. Das alles übersteigt das menschliche Maß an Verständnisfähigkeit. Und dennoch – es ist geschehen. Es war Wirklichkeit. Und es geschah in Deutschland. Es geschah in unserem Land.
Die durch historische Feldforschung zusammengetragenen Fakten sind eindeutig. Es gibt keinen Spielraum an grundlegenden Interpretationsmöglichkeiten. Das, was in Deutschland geschah, und später in andere europäische Länder hinein getragen wurde, war Barbarei im teuflischen Sinne: kulturverachtend, werteverachtend, menschenverachtend. So etwas hatte die Menschheit noch nicht gesehen und auch noch nicht erlebt. Daraus folgt nur eines, und das ist wenig genug: Wir in Berlin stehen zu unserer historischen Verantwortung für die verschleppten, ermordeten und verschollenen jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger, wie ich es eingangs schon betonte.
Ich denke, wir alle wissen tief in unserem Innern: Historische Verantwortung lässt sich nicht einfach abstreifen. Dass sie ernst genommen wird, ist der eigentliche implizite Auftrag an uns alle. Doch sie macht uns alle auch hoffentlich sensibel gegenüber den gegenwärtigen Entwicklungen in unserer Gesellschaft, denn wir müssen bedenken: Das was in Diktaturen exekutiert wird, bereitet sich in demokratischen und freiheitlichen Gesellschaften vor. Das so scheint mir, ist eben auch eine Lehre aus der Geschichte.
Was mir wirklich Sorge bereitet, sind die gegenwärtigen Antidemokratinnen und Antidemokraten, die Leugnerinnen und Leugner von objektiv gegebenen Fakten, auch historischen Fakten. Sie werden mehr, wie uns die Hochphase der Corona-Zeit verdeutlicht hat, und wie uns die hasserfüllten Demos wegen der Energiekrise zeigen. Noch größer ist meine Sorge jedoch bezogen darauf, dass der Antisemitismus wieder auf dem Vormarsch ist. Das sind Tendenzen, die wir Demokratinnen und Demokraten nicht nur registrieren sollten. Nein, wir müssen sie bitter ernst nehmen. Und wir müssen sie bekämpfen. Die Demokratie darf gegenüber ihren Feinden nicht wehrlos sein und bleiben. Denn es gibt immer einen Anfang. Er darf sich nur nicht verstetigen. Denn dann hat der Anfang kein Ende mehr.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir alle sind heute hier hergekommen, um speziell der Deportierten zu gedenken, die vom Gleis 17 des Bahnhofs Grunewald zwischen 1941 und 1945 abtransportiert wurden, in ihren Tod geschickt wurden. Im Namen Deutschlands und im unsäglichen Wahn einer Rassenideologie, die es nie wieder geben darf.
Ich verneige mich deshalb mit Demut vor allen Opfern, wohlwissend, dass dieses brutale Verbrechen an der Menschheit niemals hätte geschehen dürfen und niemals wieder geschehen darf. Vielen Dank.