Begrüßungsansprache des Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin Ralf Wieland zum 80. Jahrestag der Novemberpogrome von 1938
08.11.2018 11:00, Abgeordnetenhaus
„Verzeihen ja, vergessen nie!“
Formuliert hat diesen Satz ein älterer jüdischer Mann in einer Fernsehdokumentation über den Holocaust. Er selbst entkam nur knapp der Ermordung im Konzentrationslager. Trotz aller Bedrohung, trotz aller Unmenschlichkeit, die ihm widerfuhr, einzig und allein weil er Jude war, er konnte die Kraft aufbringen, zu verzeihen.
Ich denke, dieses Bekenntnis steht für sich, betrachten wir das, was wir Deutschen den Jüdinnen und Juden zwischen 1933 und 1945 angetan haben. Dieser Satz, er hat sich in mein Bewusstsein eingebrannt. Und ich hoffe, ich bin nicht allein.
Was für eine Kraft der Versöhnung steckt in diesen Worten. Es ist förmlich zu spüren, wie die ausgestreckte Hand bildlich seine Worte unterstützen. Was bleibt ist ein Gefühl der Scham.
„Verzeihen ja, vergessen nie!“
Seine Worte lösen zudem in mir eine Traurigkeit aus, weil ich mich weigere zu verstehen, weshalb deutsche Männer und Frauen 6 Millionen Jüdinnen und Juden getötet haben. Mir ist klar: Es ist nicht zu verstehen, und genau deshalb dürfen wir es nie vergessen. Es war Barbarei pur.
Ein Fanal der Barbarei war auch die Nacht vom 9. November auf den 10. November 1938, an dessen 80. Jahrestag wir heute erinnern. In vielen deutschen Orten brannten die Synagogen.
Wilhelmshaven – gewalttätige Ausschreitungen, die Synagoge von 1915 wurde in Brand gesetzt, noch am Abend wurden 34 Juden nach Sachsenhausen deportiert.
Meisenheim/Glan – die dortige Synagoge wurde im Innern verwüstet, dann angesteckt, Löscharbeiten verhinderten, dass sie komplett ausbrannte, alle Männer jüdischen Glaubens wurden am Abend verhaftet, später deportiert.
Trier – das Kaufhaus Haas wird völlig demoliert, viele weitere jüdische Geschäfte werden geplündert und verwüstet, die Synagoge wird zerstört und hundert jüdische Menschen werden in sogenannte „Schutzhaft“ genommen.
Berlin-Wedding – die Synagoge in der Prinzenallee wurde verwüstet, die Pathologie des Jüdischen Krankenhauses wurde von der SA zynischerweise zur Haftanstalt für festgesetzte Jüdinnen und Juden umfunktioniert.
Wilhelmshaven, Meisenheim, Trier, Berlin – es sind vier Orte im Deutschland des 9. November 1938.
Es sind vier Orte meiner eigenen Biografie.
Sie stehen aber exemplarisch für das Geschehen am 9. November, denn überall bot sich das gleiche Bild. Ein letztes Zeichen war also am 9. November 1938 gesetzt. Jedem war klar, was die jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger von nun an zu erwarten hatten. Der Wahnsinn nahm seinen Lauf.
Legitimiert wurde ja der Pogrom, weil der polnische Jude Herschel Grynszpan am 7. November 1938 in Paris den dritten Legationsrat der deutschen Botschaft Ernst vom Rath tötete. Wir alle wissen: Das war ein Vorwand, um letztlich die systematische Judenverfolgung in Gang zu setzen.
Geschichtliche Ereignisse lassen sich nicht einfach leugnen. Das gilt auch für den geplanten und angeordneten antijüdischen Terror vom 9. November 1938. Was sich allerdings im Laufe von Jahrzehnten ändern kann, ist der Blick auf die Ereignisse. Dieser Blick ändert sich gerade wieder. Nicht bei den Geschichtsforschern. Aber zunehmend bei den Menschen, die historisch nicht so interessiert sind und keinen persönlichen Zeitbezug mehr zur nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland haben.
Das macht vor allem eines deutlich: Wir dürfen nicht nachlassen in unserem Bemühen, der historischen Bildung einen eigenen Stellenwert zu geben. In den Schulen, in außerschulischen Bildungseinrichtungen. Nur wenige der heute noch Lebenden haben einen direkten, eigenen Lebensbezug in die Zeit des Nationalsozialismus hinein.
Worauf es jetzt vor allem ankommt, ist den Aspekt der historischen Verantwortung in den Mittelpunkt zu stellen und daraus auch eine Verantwortung in die Gegenwart hinein zu vermitteln. Das moralisch Verwerfliche ist ja nach wie vor mit der Pogromnacht unmittelbar verknüpft. Darüber kann es überhaupt keine Zweifel geben.
Doch wie ist es möglich, den Menschen das zu vermitteln? Die historische Faktenvermittlung reicht da nicht aus. Hinzutreten müssen Bewertungskriterien, nach denen das Geschehene einzuordnen ist für die Gegenwart. Und da scheint mir der Aspekt der historischen Verantwortung viel angemessener zu sein, als die Kategorie der historischen Schuld.
Um es direkt ein wenig Plakativer zu sagen: Die Gnade der späten Geburt zählt nicht.
Meine Damen und Herren,
zu unserem heutigen Gedenken muss aber auch die Gegenwart gehören. Es muss erschrecken, wie viele Menschen selbst heute noch eine antisemitische Grundhaltung haben. Die ein Feindbild brauchen, um so im Zweifel von eigenen Unzulänglichkeiten, vielleicht auch von erlebten Ungerechtigkeiten abzulenken. Die ein Feindbild brauchen, um eigene Minderwertigkeitskomplexe zu kompensieren.
Leidvoll haben wir dies vor Wochen am Rande der rechtsextremen Demos in Chemnitz wieder erlebt. Und leider gibt es Hass und tätliche Angriffe auch in Berlin. Alle Menschen in unserer Stadt, auch Zugewanderte und Schutzsuchende müssen wissen: Aus unserer historischen Verantwortung heraus wird Antisemitismus nicht toleriert, sondern muss bestraft werden.
Und zwar ohne Wenn und Aber.
Darüber herrscht hier im Berliner Abgeordnetenhaus kein Zweifel, wie unsere letzte Resolution „Gegen Hass und Intoleranz“ vom April deutlich macht. Und ich bin sehr froh, dass auch die Berliner Stadtgesellschaft ihre Aufgabe darin sieht, antisemitische Angriffe zu verurteilen.
„Berlin trägt Kippa“ war so ein Zeichen des demokratischen, des freien Berlins.
Denn das vielfältige Leben in unserer Stadt wird mehrheitlich von Toleranz getragen. Nicht von Gewalt, nicht von Hass und auch nicht von Wut. Wenn ich eines gelernt habe in meinem Leben als Deutscher in einem friedlichen Europa: Es reicht nicht aus, nur zu erinnern.
Das wahrhaft aufrichtige Gefühl der historischen Verantwortung muss in die Erinnerungsarbeit einfließen. Gelingt uns das gerade bei den jungen Menschen, dann haben wir eine echte Chance, antisemitische Grundhaltungen einzudämmen. Darum muss es uns heute und auch in Zukunft gehen. Damit nie wieder etwas passieren kann wie am 9. und 10. November 1938.
Wir wollen und wir werden dafür sorgen, dass sich unsere heutigen Generationen nicht auch schuldig machen, sei es durch Handeln oder durch Wegsehen.
Diese Verpflichtung bleibt für immer bestehen.