Ansprache des Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin Walter Momper zu 60 Jahre Grundgesetz – Berlin ist der Freiheit verpflichtet
14.05.2009 13:00, Abgeordnetenhaus von Berlin
Walter Momper 14.05.2009, Abgeordnetenhaus von Berlin, Plenum
- Es gilt das gesprochene Wort -
Am 23. Mai 1949 trat das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft. Anlässlich des 60. Jahrestag erinnert das Abgeordnetenhaus an die Bedeutung des Grundgesetzes für die Freiheit aller Berlinerinnen und Berliner und aller Deutschen.
Das Abgeordnetenhaus bezeugt seinen tiefen Respekt vor der Leistung der Mütter und Vätern des Grundgesetzes, die vor sechzig Jahren das Gerüst für die freiheitliche Demokratie geschaffen haben, die uns heute selbstverständlich erscheinen mag. Der Rückblick auf die schwierigen Geburtsumstände des Grundgesetzes führt uns vor Augen, dass das Grundgesetz nicht nur eine Verfassung für stabile Zeiten ist.
Die Tagungen des Parlamentarischen Rates waren überschattet von der sowjetischen Blockade Westberlins und die Folgen des von Deutschland begonnenen Krieges waren allgegenwärtig. Die Wirtschaft lag am Boden, Millionen von Flüchtlingen mussten untergebracht werden und neue Spannungen zwischen Westalliierten und der Sowjetunion ließen einen neuen Krieg befürchten. Vor dem Hintergrund dieser Krisen ist es um so bemerkenswerter, wie deutlich der Parlamentarische Rat auf die Freiheit gesetzt und autoritären Lösungen eine Absage erteilt hat.
Einklagbare Grundrechte bilden die tragenden Balken des Gerüstes, das er erschaffen hat.
Das Abgeordnetenhaus ist überzeugt, dass die Freiheitsrechte, die das Grundgesetz gewährleistet, eine unschätzbare Errungenschaft sind. Die deutsche Geschichte hat gezeigt, wie unkontrollierte staatliche Macht die Menschenrechte auf grausamste Weise missachtet hat.
Aus der Erfahrung des NS-Terrors hat der Parlamentarische Rat Konsequenzen gezogen und die Menschenwürde die oberste Stelle gesetzt. Das Grundgesetz macht unmissverständlich deutlich: Der Staat ist um des Menschen Willen da und nicht der Mensch um des Staates Willen.
Die Mitglieder des Abgeordnetenhauses sind sich der Verpflichtungen bewusst, die auch ihnen aus dem Grundgesetz erwachsen. Macht ist in der Freiheitsordnung des Grundgesetzes nie absolut. Sie geht von den Bürgerinnen und Bürgern aus, ist zeitlich begrenzt, geteilt und an Recht gebunden. Die Grundrechte setzen Grenzen für die Ausübung staatlicher Macht und sind die verfassungsrechtliche Messlatten für jede Gesetzgebung.
Die Mitglieder des Abgeordnetenhauses wissen, dass Demokratie und ihre Verfahren immer wieder erklärungsbedürftig und verbesserungsfähig sind. Die Demokratie unseres Grundgesetzes ist kein starres Gehäuse, sondern ein Raum, der für unterschiedliche Meinungen und Interessen Möglichkeiten bindet. Dass der an Spielregeln gebundene Wettstreit von Ideen Möglichkeiten zur Beteiligung und zur Lösung konkreter Probleme bietet, gilt es immer wieder neu zu zeigen.
Das Abgeordnetenhaus erkennt an und betont, dass das Engagement der Bürgerinnen und Bürger und von gesellschaftlichen Gruppen unverzichtbar ist für eine lebendige Demokratie. Viele Grundrechte, die 1949 im Grundgesetz verankert worden waren, sind erst in den nachfolgenden Jahrzehnten wirksam geworden, weil sie von Bürgerinnen und Bürgern eingefordert worden sind.
Das Abgeordnetenhaus ist sich bewusst, dass die Bedeutung des Grundgesetzes weit über den parlamentarischen Raum hinausreicht. Es bietet die Grundlage für das Zusammenleben in unserer pluralistischen Gesellschaft. Gerade in einer Stadt wie Berlin sind Teilhabechancen und Gleichberechtigung unverzichtbare Bedingungen des Miteinanders. Gesellschaftliche Vielfalt braucht einen Rahmen, der weder einengt noch beliebig ist.
Die Freiheitsordnung des Grundgesetzes bietet beste Voraussetzungen für eine vielfältige Bürgergesellschaft und die Entfaltung der Persönlichkeit.
Das Abgeordnetenhaus erinnert daran, dass das Verlangen nach Freiheitsrechten auch der Impuls war, der vor rund 20 Jahren dazu führte, dass die Berliner Mauer und die SED-Herrschaft überwunden werden konnte.
Dass das Grundgesetz heute die Rechte aller Berlinerinnen und Berliner garantiert und dass Berliner Abgeordnete im Bundestag in vollem Umfang mitwirken können, verdanken wir den friedlichen Revolutionären von 1989, der DDR-Bürgerrechtsbewegung, den Montagsdemonstranten und allen anderen Ostdeutschen, die auf ihre Weise zur Öffnung der Grenze und zur Demokratisierung beigetragen haben. Ihr Mut und ihre Tapferkeit bleibt ein Ruhmesblatt in der deutschen Geschichte.
Das Abgeordnetenhaus bekennt sich in diesem Jahr zum Vermächtnis von 1949 wie zum Vermächtnis von 1989. Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaatsprinzip und Föderalismus sind auch für die Zukunft die tragenden Säulen unseres Gemeinwesens. Die Ordnung unseres Grundgesetzes zu erhalten, sie weiter zu gestalten und mit Leben zu füllen - das betrachten wir bei allen Differenzen als gemeinsame Verpflichtung der im Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien und ihrer Fraktionen.