Ansprache des Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin Walter Momper anlässlich der Verleihung der Obermayer German Jewish History Awards
25.01.2010 18:00, Abgeordnetenhaus von Berlin
Walter Momper 25.01.2010, Abgeordnetenhaus von Berlin, Plenarsaal
- Es gilt das gesprochene Wort -
Am heutigen Abend werden zum zehnten Mal in Berlin die German Jewish History Awards der Obermayer Foundation überreicht. Für mich ist es eine große Freude und Ehre, dass Sie, Herr Obermayer, und Ihre Stiftung unser Parlament auch in diesem Jahr für die Verleihung Ihres renommierten Preises ausgewählt haben. Das Engagement Ihrer Stiftung ist einzigartig. Ich danke Ihnen und Ihren prominenten Wegbegleitern für Ihre Treue zum Abgeordnetenhaus und zu Berlin.
Zu Beginn unserer Veranstaltung muss ich einer traurigen Pflicht nachkommen und bitte Sie alle, sich von Ihren Plätzen zu erheben: Am 19. Januar 2010 starb der Publizist Ernst Cramer im Alter von 96 Jahren. Ernst Cramer war Mitglied der Jury des gemeinsamen Deutsch-Jüdischen Geschichtsrats. Er hat auch die heutigen Preisträger mit ausgewählt.
Der glänzende Journalist Ernst Cramer war bis zu seinem Lebensende Vorsitzender der Axel-Springer-Stiftung. Als Jude wurde er im Dritten Reich verfolgt, in der Reichspogromnacht verhaftet und in das KZ Buchenwald verschleppt. Im Holocaust verlor er seine Eltern und seinen Bruder. Er selbst hatte das Glück, das KZ Buchenwald wieder verlassen zu können. Als einer der letzten deutschen Juden gelang es ihm 1939 in die USA auszureisen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete er für die amerikanische Militärregierung wieder in Deutschland. Er entschloss sich, in seiner Heimat zu bleiben und mit dafür zu sorgen, die Demokratie in Deutschland zu etablieren und zu festigen. Über 50 Jahre lang arbeitete Ernst Cramer im Hause Springer - als Redakteur, als Autor, als Herausgeber und Geschäftsführer und als Aufsichtsrat. Für sein unermüdliches Wirken für die deutsch-jüdische Aussöhnung erhielt er unter anderem das Große Bundesverdienstkreuz. Erst im letzten November ehrte ihn die US-Botschaft, indem sie ein Konferenzzentrum nach ihm benannte. Berlin verliert mit Ernst Cramer einen guten Freund. Wir werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren.
(Schweigeminute)
Ich danke Ihnen, dass Sie sich zu Ehren von Ernst Cramer von den Plätzen erhoben haben.
Vor 65 Jahren - am 27. Januar 1945 - befreite die Rote Armee die 7.000 verbliebenen Häftlinge des Konzentrationslagers Auschwitz. Bereits am 17. Januar 1945 hatte der Kommandant von Auschwitz den Befehl gegeben, die Gefangenen - wie es sarkastisch hieß - zu 'evakuieren'. Menschen, die weder ordentliche Winterkleidung noch geeignetes Schuhwerk hatten, mussten in klirrender Kälte zu Fuß das Vernichtungslager verlassen. Die SS lösten frontnahe KZ's wie Auschwitz auf, häufig, ohne dass Zielorte oder Ausweichlager bekannt waren. Es begannen die Todesmärsche, denn wer nicht schnell genug vorankam, wurde gnadenlos erschossen. Bei dem letzten Appell in Auschwitz waren noch über 65.000 Häftlinge gezählt worden, von denen 7.000 im Lager zurückgelassen wurden. Diese 7.000 ausgemergelten und kranken Menschen wurden dann durch die Rote Armee befreit. Man schätzt, dass von November 1944 bis Mai 1945 ca. 700.000 Häftlinge - davon ca. 200.000 Juden - bei der Räumung von KZ's in Polen und Deutschland auf hundert Todesmärsche geschickt wurden und die Hälfte von ihnen umkam.
Als einer der letzten Überlebenden des Holocaust war vor einigen Tagen Max Mannheimer im Abgeordnetenhaus. Er stellte bei der großen Abschlussveranstaltung des Jugendprojekts denk!mal 2010 anlässlich des Gedenktags für die Oper des Nationalsozialismus das Vermächtnis der Überlebenden der deutschen Konzentrationslager vor. Hunderte von Jugendlichen hier in diesem Plenarsaal waren ganz still und sehr aufmerksam, als der 89jährige Auschwitz-Überlebende als einer der letzten Zeitzeugen das Vermächtnis der Überlebenden des Holocaust, das Anfang letzten Jahres erstmals veröffentlicht wurde, an die Jugendlichen weitergab.
Das Vermächtnis endet mit den Sätzen: 'Die letzten Augenzeugen wenden sich an Deutschland, an alle europäischen Staaten und die internationale Gemeinschaft, die menschliche Gabe der Erinnerung und des Gedenkens auch in der Zukunft zu bewahren und zu würdigen. Wir bitten die jungen Menschen, unseren Kampf gegen die Nazi-Ideologie und für eine gerechte, friedliche und tolerante Welt fortzuführen, eine Welt, in der Antisemitismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus keinen Platz haben sollen.'
Vielleicht hatten Sie heute Zeit, durch die Ausstellung in unserem Casino zu gehen oder in der Wandelhalle die Plakatpräsentation zu besichtigen. Hunderte von Jugendlichen in Berliner Schulen und Jugendeinrichtungen wollen durch ihre Arbeiten deutlich machen, dass in der jungen Generation nicht neonazistische Hohlköpfe den Ton angeben, sondern junge Leute, die sich verantwortlich fühlen für die Gegenwart und Zukunft unseres Landes.
Max Mannheimer und viele andere Zeitzeugen haben Herausragendes und Bewundernswertes geleistet, in dem sie von den Schrecken der KZ's, der Gefängnisse und der Illegalität berichtet haben und noch berichten. Das Unaussprechliche, das Entsetzliche des Holocaust der jungen Generation zu vermitteln und damit den Verfolgten und Ermordeten ein Gesicht zu geben, ist wertvolle Aufklärungs- und Erinnerungsarbeit. Wir sind Zeitzeugen wie Max Mannheimer dankbar, dass sie sich diese Lebensaufgabe auferlegt haben.
Auch die heutigen Preisträger, die mit ihrem Wirken an jüdisches Leben in Deutschland erinnern, setzen sichtbare Zeichen. Die geschichtliche Aufarbeitung und Dokumentation jüdischen Lebens in Deutschland ist ein wichtiger identitätsstiftender Beitrag nicht nur für Juden in Deutschland, sondern für alle Deutschen.
Sechs Millionen europäische Juden wurden von den nationalsozialistischen Schergen ermordet. Dennoch konnten schon 1945 einige jüdische Gemeinden wieder neu gegründet werden, wie auch bei uns in Berlin. Im Herbst 1945 waren etwa 7.000 Juden in Berlin, die aus ihren Verstecken oder als Rückkehrer aus den Konzentrationslagern zusammen kamen. Im Gründungsjahr des ‚Zentralrats der Juden in Deutschland’ , im Jahre 1950, gab es rund 15.000 Mitglieder Jüdischer Gemeinden an ca. 70 Orten in Deutschland. General Lucius D. Clay nannte das Wiederaufleben jüdischer Kultur und jüdischer Gemeinden einen 'Gradmesser für die Bewährung der neuen Demokratie in Deutschland'.
Heute - sechseinhalb Jahrzehnte nach dem Versuch der Auslöschung des deutschen Judentums können wir erfreut feststellen, dass die Jüdische Gemeinde in Deutschland in den letzten beiden Jahrzehnten schnell gewachsen ist. Ende der 80er Jahre blieb die Mitgliederzahl noch unter 30.000. Zwischenzeitlich ist Deutschland begehrtes Einwanderungsziel jüdischer Flüchtlinge vorrangig aus der ehemaligen Sowjetunion geworden.
Heute sind etwas über 100.000 Menschen in den Jüdischen Gemeinden organisiert. Die größte Stadtgemeinde stellt Berlin mit etwa 11.000 Mitgliedern dar. Für uns ist es ein Geschenk, dass die jüdischen Gemeinden wieder fester Bestandteil unserer Städte und Dörfer sind. Der verstorbene Ernst Cramer sagte in seiner Rede am 27. Januar 2006 im Bundestag: 'Es leben also in Deutschland wieder Juden. Aber es gibt, wie in anderen Teilen Europas, leider auch wieder einen Antisemitismus. Dieser ist da, auch wenn sich Judenfeindlichkeit oft weitgehend versteckt oder als Kritik an Israel tarnt ...'
Leider hat Ernst Cramer recht. Jüngstes Beispiel ist der deutsch-schwedische Rechtsextremist Patrick Bergmann, der vor wenigen Tagen in Berlin angekündigt hat , mit der 'Bürgerbewegung Pro Deutschland' bei der Abgeordnetenhauswahl 2011 antreten zu wollen. Die Initiative 'Pro Köln' hatte bei den Wahlen zum Kölner Stadtrat im letzten Jahr 5,4 % der Stimmen erhalten.
Ein anderes Beispiel ist die NPD, die nach den Kommunalwahlen im Juni 2009 in etliche Stadtparlamente Einzug hielt. Diese Wahl war ein deutliches Signal dafür, dass sich die NPD flächendeckend festsetzen will.
Auch in einigen Berliner Bezirksverordnetenversammlungen sind Rechtsextreme vertreten. Ihre Anwesenheit und Arbeit im Parlament darf nicht zur Normalität werden. Für die NPD ist die Teilhabe an der parlamentarischen Arbeit nur ein Mittel zur Abschaffung von Parlamentarismus und Demokratie.
Beide Beispiele zeigen, dass unsere Demokratie immer wieder bedroht ist. Deshalb sind Gedenkveranstaltungen wie die heutige so bedeutsam für unser Land. Die Erinnerung an die Opfer, die Erinnerung an ihre Lebensumstände, an ihre Biografien, gibt den Opfern ihren Platz in der Gesellschaft zurück.
Mit Ihren Arbeiten, sehr verehrte Preisträger, wird die Erinnerung an die Opfer des Holocaust in unserem gesellschaftlichen Gedächtnis wach gehalten. Ich danke der Stiftung und den Preisträgern herzlich für ihr großes persönliches und gesellschaftspolitisches Engagement. Wir dürfen nie vergessen – niemals.
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