Ansprache des Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin Ralf Wieland zur Enthüllung einer Informations-Stele am Gedenkstein zur Erinnerung an die Opfer des sogenannten "Blutmai" im Jahr 1929
04.05.2019 11:00, Wiesenstraße/Walter-Röber-Brücke
Deutsche Geschichte ist popkulturell so „in“ wie selten zuvor. Das beweisen nicht zuletzt die Serienerfolge von „Deutschland 83“, „Ku’damm 56“, „Weißensee“ oder „Charité“. Berlin – so scheint es – spielt dabei immer die heimliche Hauptrolle.
Gerade finden die Dreharbeiten für die dritte Staffel von „Babylon Berlin“ statt. Eine Serie, deren Handlung mitnimmt in das Berlin der zwanziger Jahre. Dabei wird auch der Wedding in den ersten Folgen zum Nebenschauplatz. Als Zuschauerinnen und Zuschauer erleben wir einen nahezu verzweifelten Polizeipräsidenten, der im Vorfeld der Maitage gegen Demonstrierende scharf macht. Dann die Szenen der Unruhen Anfang Mai 1929: Brutalität, Chaos und Panik, Verletzte und Tote in den Weddinger Straßen. Die Serie greift dabei ebenso die Propaganda der KPD auf, wie auch die Gewalt der Berliner Polizei und deren anschließende Vertuschungsstrategie. Ist die Handlung von „Babylon Berlin“ noch so fiktiv, beruhen die Nebenhandlungen, Kostüme und Orte doch auf historischen Gegebenheiten.
Mir gehen dabei zwei Dinge durch den Kopf. Erstens: Das Interesse an geschichtlichen Themen zur Weimarer Republik ist derzeit groß. Und zweitens: Wir waren vermutlich nie privilegierter, was die Beschaffung von geschichtlichen Informationen betrifft. Historische Stoffe werden heute mit Hollywood-Stilmitteln erklärt, auf Webseiten dokumentiert und in sozialen Netzwerken diskutiert. Daneben stehen natürlich nach wie vor die „klassischen“ Informationskanäle zur Verfügung: wissenschaftliche Literatur oder aber fiktive Geschichtsromane, Dokumentationen, Archive, Zeitungen und Zeitschriften, Museen, Vorträge, Bibliotheken und Gedenkstätten, Bild und Ton.
Die Stele hier ergänzt gewissermaßen den traditionellen um den modernen Informationskanal. Sie steht am historischen Ort neben dem Gedenkstein, der die Vorbeigehenden überhaupt erst auf die Ereignisse im Mai 1929 aufmerksam macht. Wer sich beim Lesen der Aufschrift des Steins fragt, warum es hier im Wedding überhaupt Straßenkämpfe gegeben hat, folgt nun einfach dem QR-Code ins Netz. Und landet auf einer Website, die sachlich, unparteiisch und umfassend über die Geschehnisse des sogenannten Blutmai informiert. Egal, ob wir zum Lesen direkt hier am Gedenkstein verweilen oder die Website später auf dem Heimweg in der U-Bahn abrufen, das ist praktisch Geschichte „to go“. Es ist gut, wenn Geschichte niedrigschwellig und für alle erreichbar ist.
Aber nicht nur das: Es ist ein Privileg, dass wir uns heute vielseitig und vor allem objektiv über Geschichte informieren können. Schließlich war das in den vergangenen 100 Jahren in Deutschland nicht immer politisch gewollt. In manchen Ländern ist es auch heute kein Selbstverständnis. Wir erleben überall auf der Welt, dass Geschichte verklärt und für eigene Überzeugungen missbraucht wird. Dabei berufen sich oft gerade extreme Positionen auf manipulierte Geschichtsbilder. Um dem selbstbewusst entgegen treten zu können, bedarf es einer breiten geschichtlichen Aufklärung. Daher sollte historische Bildung bei uns immer einen hohen, eigenen Stellenwert haben. Auch weil sich daraus möglicherweise Hinweise für gegenwärtige Probleme ableiten lassen. Teilweise bewegen uns ja heute ganz ähnliche Themen, wie in den 20er Jahren: Was bedeutet es für unsere Zukunft, wenn die traditionellen Arbeiterparteien in Europa schwächer werden? Wie gehen wir mit den Feinden der Demokratie und der Freiheit um, die wir derzeit auch in europäische Parlamente einziehen sehen? Welche Haltung nehmen wir denjenigen gegenüber ein, die heute wieder auf offener Straße „Volksverräter“ rufen?
Heute können wir uns heute kaum hineinversetzen in das Leben einer vom Krieg gezeichneten und vielleicht auch daher gewaltbereiteren Gesellschaft. Die zwanziger Jahre waren eine Zeit, in der sich Spannungen oft gewalttätig auf der Straße entluden und auch die gemäßigten Parteien paramilitärische Organisationen unterhielten. Klar ist: Wenn wir die damals herrschenden Verhältnisse verstehen wollen, müssen wir uns fragen, was damalige Generationen für Lebensumstände hatten, was sie veranlasste so und nicht anders zu handeln.
Lassen Sie mich abschließend noch sagen:
Jede Generation übernimmt für die davor lebenden Generationen auch die historische Verantwortung. Wohlgemerkt: Sie übernimmt die Verantwortung, nicht die Schuld. Zur historischen Verantwortung gehört, die Vergangenheit nicht zu leugnen. Dazu gehört, die Fakten anzuerkennen. Ein Faktum, das die Geschichte der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik bestimmte, war der Bruderkampf zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten. Es war der Kampf zwischen gänzlich unterschiedlichen Politik- und Gesellschaftsmodellen. Das wirkt bis heute nach. Das ist Geschichte und dafür steht diese Stele hier.
Ich danke allen, die an dieser Stele mitgewirkt und sie möglich gemacht haben. Und das sind vor allem Sie, liebe Frau Schäfer mit der AG Gedenkstein. Ihr vierjähriges Engagement hat sich, wie ich finde, wirklich bezahlt gemacht! Der Dank gilt auch der Kontakt- und Beratungsstelle im Tageszentrum Wiese 30, dem Quartiersmanagement in der Pankstraße und Ihnen, liebe Frau Bezirksverordnete Morgenstern, für Ihren Einsatz auf bezirkspolitischer Ebene. Für die historische Recherche und für den gelungenen Text auf der Website danke ich Ihnen, Herr Wenzel und Herr Gaida.
Ich wünsche Ihnen allen nun natürlich zahlreiche Klicks auf der Website.
Herzlichen Dank.