Ansprache des Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin Ralf Wieland zur Enthüllung des Ehrenbürgerporträts von Margot Friedländer
09.03.2020 11:00, Abgeordnetenhaus
Erlauben Sie mir mit einem Satz zu beginnen, das ich für den heutigen Anlass sehr treffend finde:
„Ich glaube, diese Begegnung werde ich nie vergessen!“
Dies waren die Worte einer Schülerin im Anschluss an ihr Treffen mit Ihnen, liebe Frau Friedländer. Es ist ja noch gar nicht so lange her, dass Sie uns hier im Abgeordnetenhaus besucht und einer Gruppe junger Leute Ihre Geschichte erzählt haben. Ich selbst war nicht dabei, da ich wohl nicht mehr ganz zur Zielgruppe gehöre, habe mir aber sagen lassen, dass es eine sehr bewegende Zusammenkunft war.
Ich weiß auch aus eigener Erfahrung, wenn ich da kurz persönlich werden darf, eine Begegnung mit Ihnen, die macht was mit einem. Die lässt einen unmöglich kalt. Da ist nicht nur die Ehrfurcht vor Ihrer Geschichte, da ist auch der tiefe Respekt vor Ihrer Persönlichkeit. Sie sind einen, wie ich finde, doch sehr beachtlichen Schritt gegangen, als Sie vor zehn Jahren zurück nach Berlin gekommen sind. Nach mehr als sechzig Jahren in den USA. Während viele andere Überlebende des Holocaust verständlicherweise nie wieder etwas mit Deutschland zu tun haben wollten, sind Sie, eher gegen die Ratschläge Ihrer Freundinnen und Freunde, zurückgekehrt.
Sie folgten Ihrem Herzensanliegen: Heute für all diejenigen zu sprechen, die es nicht mehr können und jungen Leuten Ihre Botschaft mitzugeben: „Seid Menschen, lasst es nie wieder geschehen.“
Sie besuchten zahlreiche Schulen und Einrichtungen in ganz Deutschland, um Ihre Geschichte zu erzählen und junge Leute zu Zivilcourage zu ermutigen. Sie tun das nebenbei bemerkt heute immer noch. Auch der Margot-Friedländer-Preis, der von der „Schwarzkopf Stiftung Junges Europa“ seit 2014 jährlich in Ihrem Namen vergeben wird, ruft Jugendliche dazu auf, sich im Rahmen von interaktiven Projekten eigene Zugänge zur Geschichte zu erarbeiten. Die Arbeit mit jungen Menschen bezeichnen Sie als Ihre Mission, wobei ich mir vorstellen kann, dass es nicht immer einfach ist, Ihre Erinnerungen für die jungen Leute hervorzuholen. Erinnerungen an die vielen gescheiterten Ausreiseambitionen Ihrer Mutter: Brasilien, Guatemala oder China. Die letzte verpasste Chance: Das Polizeilager in der Nähe von Bielitz, in dem Ihre Cousine und ihr Mann Schutz fanden. Erinnerungen an den 20. Januar 1943, den Tag, an dem Ihr kleiner Bruder Ralph von der Gestapo abgeholt wurde und Ihre Mutter sich dort stellte, um ihn nicht allein zu lassen. Die von einer Bekannten mündlich überlieferten Abschiedsworte Ihrer Mutter „Versuche, dein Leben zu machen“, die zu Ihrem Leitsatz wurden. Und Sie hielten sich daran. Sie versuchten Ihr Leben zu machen und tauchten unter.
Fünfzehn Monate erlebten Sie in absoluter Abhängigkeit, getrieben von Angst und Ungewissheit. Nicht alle Ihrer Helferinnen und Helfer handelten ganz uneigennützig und dennoch: Sie alle bewiesen Mut und vor allem Menschlichkeit, indem sie Ihre Lage nicht ignoriert haben, sondern Ihnen ein Versteck boten.
Wenn Sie den Jugendlichen Ihre Geschichte erzählen, blicken Sie auch zurück nach Theresienstadt. Gefangen zwischen schwerster Arbeit, Hunger, Krankheit und Tod versuchten Sie die Tage irgendwie zu überleben. Auch hier schien Ihre Mutter schützend ihre Hand über Sie zu halten. In Theresienstadt trafen Sie einen Bekannten aus Berlin wieder, Adolf Friedländer, der später zu Ihrem Mann werden sollte. Mit ihm gemeinsam erlebten Sie die Befreiung. Nach einer Zeit der Orientierungslosigkeit führte Sie Ihr Weg in die USA.
Wenn Sie Ihre Geschichte erzählen, geht es auch um Fragen und Gefühle, die Sie bis heute nicht loslassen: Die verzweifelte Frage nach dem „Warum“. Wie haben Menschen das einander antun können? Wie konnte es passieren, dass Menschen andere Menschen nicht mehr als solche anerkannt haben? Wir alle können das nicht greifen. Die wenigsten von uns hier im Saal kennen das Gefühl der Unterdrückung oder der Ausgrenzung, des Hungers oder der Todesangst. Wir haben nie erlebt, was es heißt, in der eigenen Heimatstadt „illegal“ zu werden. Wir haben dieses Berlin nie gesehen als eine Stadt, in der Nazi-Flaggen durch die Straßenzüge wehten, Bürgerinnen und Bürger Gewalt auf den Straßen erlebten, während andere sie passieren ließen. Freunde oder Verwandte von uns sind nicht willkürlich ermordet worden. Frau Friedländer, Sie haben all das erlebt.
Mit Ihren Erzählungen nehmen Sie uns, die Kinder und Jugendlichen mit in eine Welt, die man heute kaum mehr für möglich halten möchte. Doch genauso ist es gewesen. Und wir alle wissen, je mehr Zeit vergeht, desto weniger Zeitzeuginnen und Zeitzeugen können darüber berichten. Für uns gilt heute daher dringender denn je, Ihnen genau zuzuhören, um Ihre Geschichte weitertragen zu können. Umso wertvoller ist es, dass Sie uns an Ihren Erinnerungen teilhaben lassen. Wir wollen Ihre Kraft aufnehmen und Ihre Geschichte durch Ihr Portrait bei uns im Abgeordnetenhaus bewahren. Wir übernehmen die bleibende Verantwortung, mit der Geschichte Berlins und der unseres Landes umzugehen. Ihre Forderung, Frau Friedländer, an die Politik lautet, dass die Demokratie stark bleiben muss.
Ich möchte Ihnen heute im Namen aller Demokratinnen und Demokraten im Abgeordnetenhaus versichern, dass wir dafür einstehen. Wir dulden hier keine falschen oder verfälschenden Darstellungen geschichtlicher Ereignisse und Zusammenhänge. Sondern wir werden sie richtig stellen! Rassistisches und antisemitisches Verhalten werden wir nicht tolerieren, sondern mit unserem Verstand antworten. Denn wir haben etwas entgegen zu setzen: die Vielschichtigkeit der Menschen, die heute in Berlin leben und ihre grundsätzliche Aufgeschlossenheit!
Daran halten wir fest. Leben, wie wir wollen. Lieben, wen wir wollen. Das war hier nicht immer so. Es ist heute noch nicht überall so. Das ist Freiheit! Und Sie erinnern uns daran, liebe Frau Friedländer. Wir wollen gemeinsam dafür Sorge tragen, dass Berlin nie wieder so aussieht, wie Sie es zu Zeiten des Nationalsozialismus erleben mussten.Daran wird uns Ihr Portrait hier erinnern. Ihr Bildnis erzählt einerseits von glücklichen Fügungen und von Menschlichkeit in ganz unmenschlichen Zeiten. Es erinnert an die Taten, derer Sie Opfer und Zeugin sind. Das Bild – erzählt es doch auch vom Schicksal Ihrer Familie und Ihrer Freunde – soll uns auch eine Mahnung sein. Dafür, dass das menschliche künftig größer sein muss als das Böse. Vor allem aber erinnert uns Ihr Bildnis an Sie, Frau Friedländer, an eine mutige und starke Berlinerin.
Ich finde, das Bild, ich habe es bereits sehen dürfen, bringt Ihre Persönlichkeit ganz hervorragend zum Ausdruck, zeigt es Sie doch in Ihrem Element. Doch hier will ich noch gar nicht allzu viel vorwegnehmen. Ich freue mich sehr, dass die Künstlerin Stephanie von Dallwitz uns gleich etwas über die Entstehung des Portraits erzählen wird. Als Tochter eines Diplomaten ist sie in verschiedenen Kulturen groß geworden, darunter Asien, Afrika, Südamerika, New York und mehrere Orte in Europa. Künstlerisch sensibilisiert haben Stephanie von Dallwitz unterschiedliche Landschaften, Lichteinwirkungen und kulturelle Eindrücke. Inspiriert von der räumlichen Darstellung von Büsten auf der Leinwand zeichnete und malte sie Büsten beispielsweise von Fontane, Mendelssohn oder Friederike zu Mecklenburg. Frau von Dallwitz arbeitet auch mit Schiefer und Holz. Darüber hinaus regten Stoffe und die Farbe Weiß ihre Werke an. Die Künstlerin lebt und arbeitet heute in Berlin und Garz in der Ostprignitz. Ich bin gleich gespannt auf Ihre Worte, Frau von Dallwitz, komme aber zunächst noch einmal zurück auf unsere Ehrenbürgerin.
Liebe Frau Friedländer, wir danken Ihnen, dass Sie sich entschlossen haben, wieder in unserer Mitte zu leben. Sie haben unserer Stadt mit Ihrem Einsatz für demokratische Werte, Ihrem Beitrag zur Erinnerung und Ihrer Arbeit mit Kindern und Jugendlichen viel Gutes gegeben. Das Ehrenbürgerrecht ist die bedeutendste Auszeichnung, die wir in Berlin zu vergeben haben. Daher stimmt mich ein Satz von Ihnen ganz besonders froh, den Sie neulich bei uns im Haus im Gespräch mit den Schülerinnen und Schülern gesagt haben:
„Ich bin ganz Berlinerin.“ Und: „Ich liebe meine Stadt.“
Es sollte jetzt eigentlich nicht allzu pathetisch enden, aber ich möchte Ihnen doch gern sagen:
Durch Ihr Wirken, liebe Frau Friedländer, für Courage, Toleranz und Solidarität werden hoffentlich auch die nächsten Generationen Berlin noch lieben können. Herzlichen Dank!