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Blick in den Plenarsaal und hauptsächlich die Flaggen für Deutschland, Berlin und Europa

Ansprache des Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin Ralf Wieland zur Enthüllung des Ehrenbürgerporträts von Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

13.05.2019 11:00, Abgeordnetenhaus

Es ist bekanntlich eine schöne Tradition, dass Berliner Ehrenbürger nicht nur eine Urkunde erhalten. Sie werden auch porträtiert. Von einer Künstlerin, einem Künstler ihrer Wahl. Und dieses Porträt wird als Ausdruck unserer Wertschätzung für immer hier im Landesparlament ausgestellt – im Chor mit anderen Ehrenbürgerinnen und Ehrenbürgern. Sie sind dann in guter Gesellschaft. Das darf ich Ihnen versichern. Wir freuen uns jedenfalls, dass Ihr Porträt künftig ständig unser Gast sein wird, lieber Herr Gauck. Auch dieses wird, da bin ich mir sehr sicher, unser Haus schmücken.

Ich muss gestehen: Der Blick auf Ihr Leben zwingt zur Konzentration. Niemand würde Ihr Wirken erklären können, würde er ausschließlich nur die offiziellen Stationen Ihres Lebens betrachten. Die Funktionen, die Sie ausfüllten. Das wäre eindeutig zu kurz gegriffen. Nein, es war immer auch der Aspekt des „normalen“ Menschen dabei, wenn ich das so sagen darf, der dazu führte, dass die meisten aufrichtig sagten: Der Gauck – der ist einer von uns. Und das hatte natürlich damit zu tun, dass Sie nicht als Parteipolitiker in das höchste Staatsamt der Bundesrepublik gewählt wurden. Sie wurden als Persönlichkeit gewählt, die über alle Parteigrenzen hinweg, sich Respekt und Anerkennung erworben hatte im Vereinigungsprozess zweier deutscher Staaten.

Es hatte aber auch damit zu tun, dass Sie ein ganz alltägliches Leben über viele Jahrzehnte hinweg lebten mit einer starken heimatlichen Verbundenheit zu Rostock, noch mehr vielleicht zu Wustrow, dem beschaulichen Ort auf dem Darß. Ihre biografische Klammer war und ist der Norden, war und ist die Ostsee. Bis heute. Und das wird auch so bleiben. Da können wir sicher sein.

Wer wie Sie, lieber Herr Gauck, als Pastor tätig war, der ist nah an den Menschen dran. In einer Diktatur gilt das wohl besonders. Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass die Kirche in der DDR der Ort war, wo sich auch systemkritische Frauen und Männer trafen. Vor allem in den 1980er Jahren war die Kirche der Schutzraum für viele aus der Bürgerbewegung und der Friedensbewegung. Umweltfragen spielten natürlich auch eine große Rolle. Das war damals in Rostock nicht anders als in Berlin und anderen Orten der DDR. Es dürfte wohl auch deshalb kein Zufall gewesen sein, dass Sie 1989 zu den Mitbegründern des Neuen Forums in Rostock zählten.

Lieber Herr Gauck, Sie waren aus guten Gründen ein Regimekritiker. Weil der Mensch in der DDR nicht Mensch sein durfte. Weil er nicht sagen durfte, was wahr ist. Weil er öffentlich nicht reden und schimpfen durfte, ohne die Omnipräsenz der Stasi fürchten zu müssen. Und weil niemand von den Institutionen der DDR behandelt wurde wie ein mündiger Bürger.So formulierten Sie es selbst im Herbst 1989 in der Rostocker Marienkirche während des gesellschaftlichen Aufbruchs in der Stadt. Es ist ja kein Geheimnis: Das Neue Forum war gespalten. Auch in Rostock. Einerseits gab es die Befürworter eines neuen demokratischen Wegs in der DDR. Und es gab die Befürworter einer gesamtdeutschen Demokratie, einer Demokratie, die die Wiedervereinigung beider Deutschlands mit einschloss. „Wir sind ein Volk“ – so lautete dann auch der spätere Slogan der demonstrierenden Bürgerinnen und Bürger, der zum Weckruf wurde. Sie selbst, Herr Gauck, waren auch für die Wiedervereinigung. Für alle sonstigen politischen Experimente hatten Sie kein Verständnis. Auch weil Sie erkannten, dass andere Positionen nicht mehrheitsfähig waren in der Bevölkerung. Aus dem Pastor Joachim Gauck wurde dann doch der Politiker Joachim Gauck. Denn Sie kandidierten auf der Wahlliste von Bündnis 90 und zogen am 18. März 1990 als einziger Bewerber der Bürgerbewegung aus Mecklenburg-Vorpommern in die frei gewählte Volkskammer ein. Ganze 2,9 Prozent reichten Ihnen, lieber Herr Gauck, um eine rasante Karriere zu starten. Eine 5-Prozent-Hürde gab es bei dieser Volkskammer-Wahl nicht. Das war nicht nur Ihr Glück. Es war unser aller Glück, wie wir heute wissen. Denn ohne den Abgeordneten Gauck hätte es wohl nicht den Beauftragten für die Stasi-Unterlagen Joachim Gauck gegeben. Und ohne den Beauftragten für die Stasi-Unterlagen Gauck hätte es nicht den Bundespräsidenten Joachim Gauck gegeben. Da bin ich mir ziemlich sicher.

Natürlich: Es stellt sich die Frage, wie Joachim Gauck zum Stasi-Beauftragten wurde. Dazu müssen wir in die Arbeit der Volkskammer blicken. Die Fraktionsspitze schickte Sie, Herr Gauck, in den Innenausschuss der Volkskammer. Dort wollten Sie eigentlich gar nicht hin. Doch als ein Sonderausschuss zur Auflösung der Stasi von der Volkskammer im Juni 1990 eingesetzt wurde, der das Staatliche Auflösungskomitee kontrollieren sollte, da fühlten Sie sich angesprochen und kandidierten erfolgreich für den Vorsitz. Eine der zentralen Fragen, mit denen der Sonderausschuss befasst war, war die Problematik des zukünftigen Umgangs mit den Stasi-Akten. Das, was für uns heute eine Selbstverständlichkeit darstellt, nämlich, dass die Akten – soweit noch vorhanden – für die politische, juristische und historische Aufarbeitung zur Verfügung stehen, war damals höchst umstritten, vor allem auf den beiden Regierungsebenen.

Doch die Volkskammer beschloss fast einstimmig, die Akten zu öffnen. Damit bekamen auch die unzähligen Opfer der Stasi Gewissheit darüber, was ihnen zum Teil über Jahrzehnte wiederfuhr. Auch wer dahinter steckte und Zuträger war. Was das für den Einzelnen bedeutete, der ins Visier der Stasi geriet, können Nichtbetroffene wie ich nur erahnen. Auf jeden Fall wurde eines erreicht: Aufklärung und Wahrheit rangierten fortan über dem Schutz der Täter.

Dass dies möglich wurde, lieber Herr Gauck, hat unser einst gespaltenes Land besonders Ihnen zu verdanken. Insofern war es fast schon folgerichtig, dass die Volkskammer Sie zum „Sonderbeauftragten der Bundesregierung für die Verwaltung der Akten und Dateien des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit“ wählte. Übrigens mit übergroßer Mehrheit. Es ist eine Mammutaufgabe, eine neue Behörde quasi aus dem Nichts aufzubauen. Zumal wenn es sich um eine Behörde handelt, die rechtlich und menschlich besonderen Anforderungen gegenüber stand. Wie Sie selbst in Ihrer Autobiografie schrieben: Einen Aufbauplan gab es anfangs noch nicht. Der musste erst entwickelt werden. Es war dann Ihr Glück, dass Sie den Spitzenbeamten Hansjörg Geiger für diese Aufgabe gewinnen konnten. Es entstand im Laufe der Jahre eine funktionierende Behörde, deren Arbeit mit und an den Akten einer Diktatur über Deutschland hinaus Anerkennung gewann. Und wenn eine Behörde inoffiziell den Namen ihres Leiters trägt und bis heute noch als „Gauck-Behörde“ firmiert, dann zeigt es, dass Ihre Arbeit als ausgesprochen erfolgreich angesehen wurde und noch wird. Das haben nicht viele Chefs einer Bundesbehörde geschafft, so populär zu werden. Mit Ihrer Arbeit wird für immer verbunden bleiben, dass die Aufarbeitung einer Diktatur eigentlich keine Machtfrage ist. Sie – die Aufarbeitung - ist menschlich und vor allem psychologisch geboten. Das gilt für die Opfer. Und sie ist ebenso ein Akt der historischen Wahrheit, die durchaus auch menschliche und juristische Folgen haben kann. Das gilt dann meist für die Täter. Zwei Amtsperioden über jeweils fünf Jahre darf der Chef der Stasi-Unterlagen-Behörde das Amt ausfüllen.

Für Sie persönlich hieß das: Im Jahr 2000 verließen Sie die „Gauck-Behörde“. Es wurde nun ruhiger um Joachim Gauck. Sie waren aber keineswegs untätig, denn Sie füllten Ihre Zeit als „reisender Demokratielehrer“ aus, wie Sie schrieben. Sie taten dies als Vorsitzender des überparteilichen Vereins „Gegen Vergessen – Für Demokratie“. „Ein reisender Demokratielehrer“ – das beschreibt nicht nur die Funktion eines Vereinsvorsitzenden. Es ist auch die Stellenbeschreibung für das Amt des Bundespräsidenten – zugegeben auf eine sehr kurze Formel gebracht. Davon waren jedenfalls die SPD und die Grünen überzeugt. Denn diese schlugen Sie 2010 erstmals als Kandidaten für das höchste Staatsamt vor. Ihr damaliger Gegenkandidat Christian Wulf von der CDU konnte sich in der Bundesversammlung nur knapp durchsetzen. Aber Sie hatten mit Ihrem Wahlergebnis ein Zeichen gesetzt, das nachwirkte.

Denn 2012, nach dem Rücktritt von Christian Wulf vom Amt des Bundespräsidenten, kandidierten Sie erneut für die Position des Bundespräsidenten. Dieses Mal auch mit zusätzlicher Unterstützung der CDU/CSU-Fraktion. Entsprechend gut fiel Ihr Wahlergebnis in der Bundesversammlung aus. Es reichte ein Wahlgang. Deutschland hatte nun erstmals einen Bundespräsidenten, der aus den neuen Bundesländern stammte. Und Sie waren auch der erste parteilose Bundespräsident. Wir alle wissen: Die eigentliche Macht des Bundespräsidenten stellt die Rede da. Es sind die Botschaften, die ein Bundespräsident aussendet, mit denen er versucht, auch politischen Einfluss zu nehmen.

Lieber Herr Gauck,

„Der Spiegel“ hat sich vor einiger Zeit die Mühe gemacht, Ihre Reden als Bundespräsident zu scannen. Ich bin mir sicher: Jeder denkt, das Wort „Freiheit“ tauchte in Ihren Reden am häufigsten auf. Auch ich hätte darauf getippt. Das ist aber nicht korrekt. Spitzenreiter in Ihren Reden ist der Begriff „Europa“. Der Europa-Gedanke - ich denke, Sie setzten damit ein Zeichen, dass der Gegenpol zu einem wieder erstarkten Nationalismus nur die Europäische Union sein kann. Und in der Tat: Es muss uns Sorgen bereiten, wenn wir beobachten, dass sich immer mehr Länder außerhalb des europäischen Wertekanons bewegen. Da ist nicht nur der Brexit, da sind auch durchaus antidemokratische Entwicklungen wie in Polen oder Ungarn zu nennen. Auch Italien ist gespalten.

Kurzum: Ihr Werben für ein freies, demokratisches und auch selbstbewussteres Europa war mehr als angebracht. Denn ohne ein geeintes Europa wird unser Kontinent in die Bedeutungslosigkeit versinken. Kein einzelnes Land allein wird ökonomisch und kulturell diese Kraft entwickeln wie im Rahmen der Europäischen Union. Das ist nicht nur Gerede von Eliten, das ist die Wahrheit und Zukunft für uns alle. Und deshalb kann es nur darum gehen, Europa zu stärken, nicht zu schwächen.

Lieber Herr Gauck,

für mich und für viele Menschen in unserem Land waren Sie auch ein aufrichtiger Botschafter für die Freiheit. Sie konnten es so überzeugend sein, weil Sie knapp fünfzig Jahre in einem Land lebten, das die Menschen nicht frei sein ließ. Lassen Sie mich deshalb zum Abschluss noch einmal aus Ihrer Autobiografie zitieren. Dieses Zitat ist so grundlegend. Es spiegelt nicht nur das Leben von Joachim Gauck. Es spiegelt unser aller Leben in diesem Land.

Nur viele haben es vergessen:

„Wo ich jetzt lebe“, gemeint ist die wiedervereinigte Bundesrepublik, „möchte ich sein, aber ich kann immerfort auch gehen.

Wo ich jetzt lebe, habe ich Grundrechte, garantiert durch die Verfassung: Gewissensfreiheit, Glaubensfreiheit, Meinungsfreiheit, die Freiheit der Berufswahl, Versammlungsfreiheit, Forschungs- und Veröffentlichungsfreiheit.

Wo ich jetzt lebe, gründen Menschen von sich aus Vereine, Bürgerinitiativen, Gewerkschaften und Parteien und übernehmen Verantwortung in ihnen.

Kritik, Diskurs und Dissens gelten als Normalfall der politischen Kultur und nicht als politisch-ideologische Diversion, Untergrundtätigkeit oder politische Straftat.

Wo ich jetzt lebe, existiert die Herrschaft des Rechts, notfalls kann ich meine Rechte auch einklagen.

Es gibt den freien Markt, aber auch ein soziales Netzwerk – wer bedürftig ist, erfährt Unterstützung.

Und seit mehr als sechzig Jahren (inzwischen sind es über siebzig Jahre) hat dieses Land kein anderes überfallen, es lebt mit seinen Nachbarn in Frieden.“

Prägnanter und trotzdem auf den Punkt gebracht lässt sich das Leben und Dasein im freien Deutschland nicht skizzieren. Ein Leben, um das uns viele Menschen im Ausland beneiden. Sie, Herr Gauck, haben uns das immer wieder gespiegelt. Dafür sind wir Ihnen zu Dank verpflichtet.

Lieber Herr Gauck,

es steht außer Frage: Sie haben sich verdient gemacht um unser Land. Sie haben immer versucht, den Menschen Orientierung zu geben – als Pastor in Rostock, als Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen und als Bundespräsident. Ein Großteil Ihres Wirkens spielte sich in Berlin ab. Und Ihre Verbundenheit mit der Stadt zeigt sich darin, dass Sie noch einen Wohnsitz in Berlin haben. Ich denke, wir Berlinerinnen und Berliner können stolz darauf sein, dass Sie unser Ehrenbürger sind und mit uns hier in Berlin leben. Wer einmal von Berlin in den Bann gezogen wurde, den lässt diese Stadt nicht mehr los.

Aber: Sie sind auch weiterhin viel unterwegs, jetzt wieder als „reisender Demokratielehrer“. Und wir wünschen Ihnen, dass Sie diese Aufgabe noch lange ausüben können. Denn wahr bleibt doch: Es ist ein Segen, dass wir in einem freien und wiedervereinten Land leben. Daran haben Sie entscheidend mitgewirkt. Alles Gute für Sie auf allen Ihren kommenden Wegen, lieber Herr Gauck.

Vielen Dank.

Lieber Herr Gauck, meine Damen und Herren, gestatten Sie mir noch einige Worte zum Künstler Christoph Bouet. Ohne ihn gäbe es das Porträt nicht.

Christoph Bouet, 1974 in Halle an der Saale geboren, studierte Malerei und Grafik an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein und arbeitet seitdem als freischaffender Künstler. Er ist ein exzellenter Maler und gilt als Vertreter des neuen Impressionismus. Er gehört zu den Malern, die ihre Malerei um die "Dritte Dimension" erweitern , in dem sie Ölfarbe pastos auftragen, teilweise fast zu Reliefs aufschichten, was ihre Malerei dadurch sehr lebendig wirken lässt und dem auftreffenden Licht (und dem daraus resultierenden Schatten) einen größeren eigenen Gestaltungsspielraum lässt. Gekonnt knüpft Christoph Bouet an die Tradition des „Old German Painting“ an. Berühmt ist Christoph Bouet wegen seiner rohen und ursprünglichen Landschaftsbilder geworden.

Die Ölfarben werden direkt aus der Tube in dicken Schichten auf die auf dem Boden liegende Leinwand gespachtelt. In expressiven Farben treten seine Motive bewegt reliefartig hervor und lassen scheinbar ruhige Landschaften zu aufwühlenden Bildern werden, die tief in das Innere des Betrachters eindringen können. Wir werden nachher sehen, dass diese Technik auch bei Porträts angewendet werden kann, wenngleich Christoph Bouet in diesem Fall weniger expressive Farben verwendet hat. Auf sein Werk „Joachim Gauck“ dürfen wir deshalb schon jetzt sehr gespannt sein.

Doch bevor ich Herrn Gauck und Herrn Bouet zur Enthüllung an das Kunstwerk bitten darf, wird für uns zunächst Renee van Bavel singen.

Das Lied heißt: "Ein Mensch."