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Blick in den Plenarsaal und hauptsächlich die Flaggen für Deutschland, Berlin und Europa
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Ansprache des Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin Ralf Wieland in der Gedenkveranstaltung der Armenischen Gemeinde zu Berlin

26.02.2015 19:00, Plenarsaal

- Es gilt das gesprochene Wort - Am 24. April 2015 jährt sich die Verhaftung und darauf folgende Deportation der politischen und kulturellen Elite der Armenischen Gemeinde in Konstantinopel zum 100. Mal. Es waren armenische Intellektuelle, Politiker, Journalisten, Unternehmer,  Künstler, die unter dem Vorwurf der Kollaboration mit dem russischen Kriegsgegner die ersten Opfer der Sündenbock-Strategie der Jungtürken wurden. Das war der Beginn des ersten Völkermords des 20. Jahrhunderts: Der Genozid an den Armenierinnen und Armeniern im Osmanischen Reich. Die Botschaft der Republik Armenien, die Armenische Gemeinde zu Berlin  und die Initiative Genozid 1915 haben für heute hier in den Plenarsaal eingeladen, um an diesen  ersten Zivilisationsbruch des 20. Jahrhunderts zu erinnern und der Toten zu gedenken. Das Gedenken an die Opfer ist stets auch eine Mahnung, aus dem  historischen Rückblick  Lehren für die Zukunft zu ziehen. Im Schatten des ersten Weltkrieges wurden im Osmanischen Reich auch Tartaren, Griechen und Kurden zu Hunderttausenden Opfer, nicht nur, aber auch, weil sie Christen waren. Wir gedenken heute aller dieser Opfer ethnischer Minderheiten. Von den zwei Millionen Armeniern, die 1915 im Osmanischen Reich lebten, kamen bei den Verfolgungen mehr als eine Million, Schätzungen gehen bis auf eineinhalb Millionen, ums Leben. Es war ein Menschheitsverbrechen, das bis heute nicht gesühnt wurde. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gab es insbesondere auf Druck der Engländer in der Türkei eine kurze Zeit, in der Täter ausgemacht und verurteilt wurden. Die eigentlich Verantwortlichen blieben jedoch in Freiheit. Bis zum heutigen Tag hat der türkische Staat sich nicht bereitfinden können, diese traurige Erblast in ausreichendem Maße anzuerkennen und aufzuarbeiten. Deshalb ist es umso wichtiger, dass die kritische Geschichtsauseinandersetzung der türkischen Zivilgesellschaft Unterstützung findet. Das Aussparen oder Leugnen schadet beiden Völkern. Denn nur dann, wenn man sich der eigenen Geschichte auch stellt, ist der Weg zu einer Versöhnung offen. Das armenische Gedenkjahr 2015 ist ein guter Anlass, erneut  darauf hinzuweisen, dass die Verbrechen am armenischen Volk einen festen Platz im weltweiten, auf jeden Fall aber im kollektiven europäischen  Gedächtnis erhalten sollten. Viele Parlamente und internationale Organisationen haben die Deportationen und die Vernichtung der Armenier als Völkermord anerkannt. Die wichtigste Botschaft der UN- „Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“ aus dem Jahr 1948 ist, das Wesen des Völkermords zu kennzeichnen durch die Absicht, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören. Der Begriff, der durch Raphael Lemkin schon 1943 definiert wurde, hat den ungeheuerlichen Verbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen Namen gegeben. Vor zehn Jahren, im Jahr 2005, wurde im Deutschen Bundestag eine parteiübergreifende Resolution zu den Ereignissen vom April 1915 verabschiedet. Die Verstrickung des deutschen Kaiserreiches ist ein trauriges Stück deutscher Geschichte. Es ist die historische Mitverantwortung, es ist die unrühmliche Rolle des deutschen Reiches, das die Greuel zuließ. Denn: Kein anderer Staat hatte damals so viel Einblick in die Entwicklung der Ereignisse wie das deutsche Kaiserreich. In der deutschen Öffentlichkeit ist immer noch recht wenig über das schreckliche Geschehen, die große Katastrophe, bekannt. Die Archive des Auswärtigen Amtes hier in Berlin sind seit langem für die historische Forschung geöffnet. In Armenien selbst lagern abertausende Quellen, die für die Wissenschaft zugänglich sind. Aufarbeitung und Forschung haben erst begonnen. In Deutschland leben heute fünfzig- bis sechszigtausend Nachfahren der Überlebenden. Auch hundert Jahre nach dieser schrecklichen Katastrophe ist die Identität vieler hier lebender Armenier davon mit geprägt. Denn: In jeder Familie waren viele Opfer zu beklagen, nur wenige überlebten.  Im Zuge des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens von 1961 ergriffen viele Armenier, die noch in der Türkei lebten, die Chance, in unserem Land ganz neu anzufangen. Ich freue mich, dass heute über 90 % der in Deutschland lebenden Armenierinnen und Armenier einen deutschen Pass besitzen oder bereits in Deutschland geboren worden sind. Deutschland ist ihre Heimat geworden. Es stimmt mich hoffnungsvoll, dass im Oktober 2009 in Zürich mit der Unterzeichnung der Protokolle zur Normalisierung der bilateralen Beziehungen zwischen der Türkei und Armenien ein Schritt hin zu einem Annäherungsprozess begonnen worden ist. Die Bundesregierung hat ganz aktuell erst im letzten Monat auf eine Kleine Anfrage hin noch einmal bestätigt, dass sie sich gegenüber den Regierungen der Türkei und Armeniens auch weiterhin für eine baldige Ratifizierung dieser Protokolle einsetzen wird. Die historische Auseinandersetzung mit den Massakern liegt allerdings in erster Linie in der Verantwortung der Türkei und Armeniens. Die Opfer der armenischen Katastrophe haben es verdient, dass  die Verbrechen an ihrem Volk aufgearbeitet werden. Wie schwierig dieser Prozess ist, zeigte sich exemplarisch im Jahr 2007, als der armenisch-stämmige, türkische Journalist Hrant Dink auf offener Straße in Istanbul von einem 19-jährigen türkischen Nationalisten erschossen wurde. Dink hatte sich sensibel und behutsam dafür eingesetzt, dass die Türkei sich ihrer Verantwortung für die Vergangenheit stellen möge. Dieser Mord hat die türkische Zivilgesellschaft aufgerüttelt. Ein Jahr später unterschrieben über dreißigtausend Menschen eine Internetpetition, in der das armenische Volk um Verzeihung für das Unrecht von 1915 gebeten wurde. Als vor zwei Jahren Armenier in die Türkei reisten, um u.a. am Grab des ehemaligen osmanischen Gouverneurs Fayik Ali Ozansoy  für sein  aktives Eintreten für die Armenier zu gedenken, wurde aus meiner Sicht auch eine große Geste zur Bereitschaft der Versöhnung gezeigt. In den letzten zehn Jahren hat es in Deutschland eine ganze Reihe von Initiativen zur Förderung von Aussöhnungsprojekten gegeben. Hier möchte ich insbesondere das Auswärtige Amt hervorheben, das z.B. Projekte des Instituts für Internationale Zusammenarbeit des Deutschen Volkshochschul-Verbandes gefördert hat, einen Auftritt des armenisch-türkischen Jugendorchesters in Berlin im Jahr 2012 oder eine Themenreise für türkische Journalisten im November 2012. Dazu gehört auch die Organisation diverser Jugendcamps zwischen türkischen und armenischen Studierenden in den letzten Jahren. An vorderster Stelle zu nennen ist sicherlich die Förderung und Unterstützung des Lepsius-Hauses Potsdam e.V. Eine Gedenkveranstaltung bietet nicht den Rahmen, auf die vielen einzelnen Projekte einzugehen. Bedanken  möchte ich mich an dieser Stelle schon jetzt bei der Bundeszentrale für politische Bildung, die neben dem schon vorhandenen Schriftenreihe - Band über die Armenier - Frage in der Türkei für April 2015 einen weiteren Band zu dem Thema angekündigt hat und zusätzlich ein Online-Dossier für Anfang Mai 2015. Hier in Berlin wird es in diesem Jahr eine Fülle von Veranstaltungen geben, die sich des Themas annehmen, vom Gorki-Theater über die Evangelische Kirche bis hin zur Vorstellung eines neuen pädagogischen Handbuchs  des Bildungsteams Berlin-Brandenburg zur Erinnerung an den Genozid an den Armeniern. Im letzten Jahr hat der damalige Regierungschef und heutige Präsident Erdogan den Familien der armenischen Opfer gegenüber sein Mitgefühl ausgesprochen. Ich persönlich verstehe das als ein Angebot zu einem friedlichen Dialog. Ich denke, das ist ein erster Schritt auf dem Weg, die Vergangenheit anzunehmen. Es geht um viel: Es geht darum, das Schweigen zu durchbrechen.  Es geht um die gemeinsame Zukunft von uns allen. Ich danke Ihnen.