Ansprache des Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin Ralf Wieland anlässlich des 30. Jahrestages des Gemeinsamen Abgeordnetenhauses
14.01.2021 10:00, Abgeordnetenhaus
In dieser Woche, am Montag, hatten wir alle zusammen Geburtstag. Denn unser Parlament, das sich am 11. Januar 1991 konstituierte, feierte seinen 30. Geburtstag. Wir blicken zusammen also schon auf ein Stück Geschichte unseres Abgeordnetenhauses zurück. Wir sind das Parlament für ganz Berlin. Und darauf können wir ruhig ein wenig stolz sein.
Normalerweise würden wir anlässlich dieses geschichtlichen Datums eine Festveranstaltung haben. Aber die gegenwärtigen Pandemiebedingungen lassen dies nicht zu. Erlauben Sie mir stattdessen, dass ich einige Worte zu diesem historischen Datum unseres Hauses an Sie richte.
Der erste Tagungsort unseres Parlaments war bekanntlich die Nikolaikirche. Kirchen, meine Damen und Herren, Kirchen sind aus gutem Grund nicht die naheliegenden Tagungsorte für Parlamente. Das war im 19. Jahrhundert durchaus noch anders und hatte vor allem Platzgründe. Erinnern wir uns nur an das Paulskirchenparlament von 1848. Aber auch die allererste Berliner Stadtverordnetenversammlung konstituierte sich in einer Kirche, namentlich in der Berliner Nikolaikirche. Und zwar am 11. Januar 1809.
Es war daher eine ehrenvolle Erinnerung an die erste Berliner Stadtverordnetenversammlung, als sich vor dreißig Jahren das Gesamtberliner Parlament ebenfalls am 11. Januar in der Nikolaikirche versammelte. Diese konstituierende Sitzung wirkte wie ein Experiment. Völlig unterschiedlich sozialisierte Abgeordnete betraten die Bühne eines Landesparlaments in einem neuen Stadtstaat, der sich auch erst noch finden musste. Kurzum: Neue Revolutionserfahrung traf auf Jahrzehnte erprobte institutionalisierte Demokratieerfahrung. Zwei Welten – wenn man so will – trafen aufeinander. Und die Vorstellung, wie das funktionieren soll, war zunächst noch schwach ausgeprägt. Klar war jedoch – es musste klappen. Vor allem zum Wohle all der Menschen in Berlin, die verheißungsvoll in die Zukunft schauten, die von der Vorstellung lebten, nun werde alles besser.
Ein enormer politischer und sozialer Druck entstand, der aber auch im Parlament registriert wurde und zur Disziplinierung beitrug. Doch zunächst musste sich das neue Abgeordnetenhaus selbst finden. Der Streit um die Zählung der Wahlperioden war dabei noch das geringste Problem. Aber er hatte Symbolkraft. War es nun die erste Wahlperiode eines völlig neuen Parlaments? Oder war es in Fortzählung der Wahlperioden des existierenden westlichen Abgeordnetenhauses die zwölfte Wahlperiode? Die Mehrheit entschied – es wurde die zwölfte Wahlperiode. Aber ein fader Beigeschmack bei den Abgeordneten aus dem Ostteil der Stadt blieb. Die Gefühle des Neuanfangs und des Aufbruchs erhielten einen Dämpfer. Erste Enttäuschungen machten sich breit. Denn auch über die künftige Verfassung von Berlin gab es keinen Konsens im neuen Abgeordnetenhaus.
Die erste frei gewählte Ost-Berliner Stadtverordnetenversammlung vom Mai 1990 hatte in rasantem Tempo eine neue Verfassung erarbeitet und bereits im Juli 1990 in Kraft gesetzt. Ein Kraftakt der Selbstgewissheit. Und so gab es zwei Verfassungen in Berlin. Denn die West-Berliner Verfassung von 1950 galt ja auch noch. Allen politisch Verantwortlichen war klar: In der Verfassungsfrage lag Sprengstoff. Denn es galt ja das Trennende zu überwinden, um das Einheitliche zu betonen. Und das konnte nur eine Verfassung garantieren, zu der sich auch der überwiegende Teil der Gesamtbevölkerung bekennen konnte. Denn das war weitgehender Konsens: Die neue Berliner Verfassung sollte auch per Volksabstimmung legitimiert werden. Um zu einer guten Lösung zu kommen, setzte das Abgeordnetenhaus eine Enquete-Kommission ein, um dem Parlament Vorschläge zu unterbreiten, wie die Struktur der neuen Verfassung aussehen könnte. Für die Zeit des Interregnums wurde die West-Berliner Verfassung zunächst weiter in Kraft gesetzt. Immerhin dauerte dieser Prozess insgesamt vier Jahre, bis dann 1995 eine neue Berliner Verfassung erarbeitet war. Sie erhielt sowohl bei der Abstimmung im Abgeordnetenhaus die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit als auch bei der Volksabstimmung die erforderlichen 75 Prozent.
Die Erarbeitung der neuen Verfassung war ein schwieriges Unterfangen. Oft gingen die Vorstellungen weit auseinander. Man muss es dennoch als einen immensen Erfolg ansehen, dass sich alle Abgeordneten über die Partei- und Bezirksgrenzen hinweg auf eine Berliner Verfassung verständigen konnten. Jedenfalls wurde mit der neuen Berliner Verfassung eine feste Klammer geschaffen für den weiteren Vereinigungsprozess in Berlin. Ich möchte sogar sagen: Unsere Verfassung hat entscheidend dazu beigetragen, dass wir in Berlin schon längst den vermeintlichen Ost-West-Gegensatz überwunden haben. Und ich denke: Auch darauf können wir stolz sein.
Dieses Gebäude hier, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist uns längst ein Zuhause geworden. Aber dass wir hier tagen, wurde schon 1990 von den Präsidien der Stadtverordnetenversammlung und dem Abgeordnetenhaus im Voraus entschieden. Es war damals eine kluge Entscheidung im Vorgriff auf das neu zu wählende Gemeinsame Abgeordnetenhaus. Denn was lag näher für ein Parlament, als in einem Gebäude zu tagen, das als Parlamentsgebäude konzipiert wurde. Ich denke, wir können froh sein, dass wir im ehemaligen Preußischen Landtag residieren. Wir knüpfen so an die positive Demokratiegeschichte des Hauses an, die 1919 begann und 1932 mit dem sogenannten Preußenschlag tragisch endete.
Dieses Haus spiegelt aber nicht nur die dunklen Kapitel in unserer Geschichte wider. Die Würde dieses Hauses ist ebenso beseelt vom Freiheitswillen. Das leitet sich von den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts ab. Und ich sage dies auch gerade in diesen schwierigen Pandemiezeiten: Gehen wir mit dem hohen Gut der Freiheit sehr pfleglich und behutsam um.
Sie ist manchmal sehr fragil. Lassen Sie mich zum Abschluss noch einen Dank aussprechen. Er richtet sich an die Abgeordneten des ersten Gemeinsamen Abgeordnetenhauses, insbesondere aber an die Kolleginnen und Kollegen aus den damaligen Ost-Bezirken. Sie haben nicht nur die immensen Veränderungen in ihren eigenen Lebensbereichen meistern müssen. Sie sind häufig sogar ohne berufliche Absicherung das Wagnis politischer Ämter eingegangen. Das nötigt mir immer noch großen Respekt ab. Und ich denke, Ihnen auch.
Ein kleines Fazit möchte ich noch ziehen:
Unterschiedliche Erfahrungshorizonte und unterschiedliche Mentalitäten der Abgeordneten prallten zunächst aufeinander. Die Teilung der Stadt, die ja erst überwunden werden musste, wirkte auch in den Debatten und in den Köpfen der Abgeordneten nach. Heute, dreißig Jahre später, dominiert die allseitige Zusammenarbeit an der politischen Zukunft Berlins die tägliche Arbeit der Abgeordneten. Im Parlament sieht jede Abgeordnete, sieht jeder Abgeordnete zunächst die Verantwortung für die ganze Stadt, ohne die lokale Verankerung in den Wahlkreisen zu vernachlässigen.
Und so ist aus dem Gemeinsamen Abgeordnetenhaus längst ein Parlament für alle in Berlin geworden – eben das Berliner Abgeordnetenhaus. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich danke Ihnen.