Ansprache des Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin Dennis Buchner zum Gedenktag für die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft
27.01.2022 10:00, Abgeordnetenhaus, Plenarsaal
Heute vor genau 77 Jahren wurden das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und das Konzentrationslager in Auschwitz durch die sowjetische Armee befreit. Mit dem 27. Januar 1945 war der Zweite Weltkrieg noch nicht beendet. Und doch war dieses Ereignis eine Zäsur. Ein Zeichen der Hoffnung für viele Inhaftierte, die Opfer der Nazidiktatur geworden waren. Seit 1996 ist der 27. Januar aus diesem Grund der „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“. Weltweit wird an diesem Tag den über 6 Millionen Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gedacht.
Lassen Sie mich bitte deshalb einige Worte des Gedenkens, aber auch der Mahnung sprechen – besonders auch mit Blick auf das leider deutlich wahrnehmbare Wiedererstarken des Antisemitismus in Deutschland. Ich hoffe, wir alle hier in diesem Saal sind uns am heutigen Gedenktag einig:
Die nationalsozialistische Herrschaft war zutiefst menschenverachtend. Die jüdische Bevölkerung hat das am stärksten gespürt. Vor einer Woche hat sich die sogenannte Wannseekonferenz zum 80. Male gejährt. Das monströse Verbrechen, das die Nazis hier planten und leider millionenfach umsetzten, beschämt mich bis heute. Es kann uns alle nur beschämen. Die Nationalsozialisten bekämpften ihr eigenes Volk. Menschen jüdischen Glaubens, die vorher selbstverständlich unsere Nachbarn waren. Menschen mit Behinderungen, die zu unseren Familien gehörten. Männer, die Männer und Frauen, die Frauen liebten. Sinti und Roma. Kirchenleute, die sich nicht einreihen wollten und alle, die politisch anders dachten.
Als Abgeordnete eines Parlaments und als gewählte Vertreterinnen und Vertreter der Bevölkerung haben wir viele Aufgaben, Rechte und Pflichten. Für mich die wichtigste ist:
Wir dürfen nie wieder zulassen, dass Menschen wegen ihrer Religion, Herkunft, ethnischen Zugehörigkeit, Nationalität, sexuellen Orientierung oder Meinung diskriminiert, verfolgt und ermordet werden. Jede Form der Diskriminierung und des tätlichen Angriffs auf Menschen ist zugleich ein Angriff auf unsere freie Gesellschaft. Dazu gehört nicht nur, unser eigenes Handeln zu reflektieren. Sondern wir stehen auch in der Verpflichtung, denjenigen Einhalt zu gebieten, die unsere Gesellschaft spalten wollen, indem sie Menschen erniedrigen oder attackieren.
Besonders uns Deutschen muss es eine Verpflichtung sein, uns die Schrecken des Nationalsozialismus immer wieder bewusst zu machen und die Erinnerung an ihre Opfer wach zu halten. Viele der ehemaligen deutschen Konzentrationslager sind heute Gedenkstätten. Sie zeigen Tausenden Besucherinnen und Besuchern jedes Jahr ganz konkret die Abgründe der deutschen Geschichte. Sie vermitteln eindrücklich: Die Geschichte lässt sich nicht einfach ausradieren oder umdeuten. Auch den historisch extrem dunklen Seiten unserer Vergangenheit müssen wir uns stellen.
Und nur wer Geschichte kennt, kann Zukunft gestalten. Das ist die Richtschnur für unser eigenes Handeln. Die Gedenkstätten mahnen uns alle, dem Humanismus und der Freiheit verpflichtet zu bleiben. Übrigens auch gerade in Krisenzeiten. Das sind wir nicht nur den Opfern schuldig. Das ist unsere ureigene Verpflichtung im Lichte einer zivilisierten und demokratischen Gesellschaft.
Mit dem Jugendforum Denkmal hat das Abgeordnetenhaus seit 1993 junge Menschen eingeladen, sich mit unserer Geschichte zu beschäftigen. Vor einer Woche haben wir – per TV-Sendung – einzelne Projekte vorgestellt. Ich lade Sie alle herzlich ein, sich die Sendung auf dem Youtube-Kanal des Abgeordnetenhauses anzusehen.
Am Dienstagabend haben wir zum 22. Mal hier im Berliner Abgeordnetenhaus – auch in Form eines Videoformates – die Obermayer Awards vergeben und erneut sechs Projekte und Einzelpersonen aus dem ganzen Bundesgebiet ausgezeichnet, die sich in herausragender Weise für Erinnerungskultur einsetzen, aber den Menschen auch heutiges jüdisches Leben nahebringen und sich so für die Freundschaft einsetzen. Auch hier lohnt es sich sehr, die Sendung anzusehen.
Bei uns in Berlin erleben wir zum Glück immer mehr religiöses und kulturelles jüdisches Leben, eine wachsende jüdische Gemeinde, die sich in die Nachbarschaften öffnet, jüdische Sportvereine, in denen nicht der unterschiedliche Glaube der Sportlerinnen und Sportler im Mittelpunkt steht, sondern das gemeinsame und verbindende des Sports.
Es gibt also viele gute Zeichen. Trotzdem muss es uns alle beunruhigen, dass es heute wieder antisemitische Ausfälle gibt – in aller Öffentlichkeit, auf unseren Straßen, auch bei uns in Berlin. Das können wir nicht dulden. Das wollen wir nicht dulden. Und dafür kann es niemals eine Rechtfertigung geben. Wir dürfen sowas auch in keinem Fall beschönigen, sondern müssen es offen adressieren. Auch in diesem hohen Haus. Jeglicher Antisemitismus, meine Damen und Herren, ist Ausdruck einer Hasskultur. Davor sollten und können wir nicht die Augen verschließen. Denn wenn wir nicht gegensteuern, kann der Hass sehr schnell wieder barbarische Züge annehmen. Genau das ist schon einmal geschehen in Deutschland. Mit verheerenden Folgen, die uns hoffentlich allen eine Mahnung sind.
Es ist und bleibt daher unser Auftrag auch in diesem Parlament, alles dafür zu tun, Hass und Antisemitismus in unserer Stadtgesellschaft nicht wieder salonfähig werden zu lassen. Das können wir übrigens nicht allein der Polizei, den Gerichten und den in diesem Bereich ehrenamtlich Tätigen überlassen. Es ist auch unsere politische Aufgabe, die wir im Blick behalten müssen. Auf allen Feldern unseres Einflussbereichs. Nicht nur in Sonntagsreden, sondern ganz konkret vor Ort in unseren Wahlkreisen, im Gespräch mit Bürgerinnen und Bürgern und überall dort, wo wir Missstände feststellen.
„We Remember“ – Wir erinnern uns heute an so viel sinnloses Leid, an Gewalt und Zerstörung und an die unzähligen Opfer. Die Formel „We remember“ muss stets untrennbar mit einer anderen verbunden sein:
NIE WIEDER.
Ich danke Ihnen, dass wir heute gemeinsam an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert haben.