57. Jahrestag des Aufstandes im Warschauer Ghetto
18.04.2000 00:00
Reinhard Führer 18.04.2000, . 57. Jahrestag des Aufstandes im Warschauer Ghetto
Eine Stunde des Gedenkens und der Trauer wie die heutige, ist der Versuch, zu begreifen, was unbegreiflich ist. Sie ist auch der Versuch, die Vergangenheit anzunehmen als Mahnung und Anspruch an jeden einzelnen von uns.
Wenn wir heute über diese Zeit sprechen, müssen wir uns vor Augen führen, dass viele der im Jahr 1945 noch Minderjährigen jetzt bereits über 70 Jahre alt sind. Es wird von Jahr zu Jahr schwieriger, Zeitzeugen zu finden, - Menschen, die jene Zeit als Erwachsene miterlebt, miterlitten haben. Zeitzeugen, die jungen Menschen aus eigener Erfahrung berichten können.
Die heutige Generation hat keine Schuld auf sich geladen. Aber - und das sage ich mit Nachdruck - die heutige Generation trägt die Verantwortung dafür, wie sie mit der Vergangenheit und insbesondere mit der Zunkunft umgeht.
Verantwortung für Gegenwart und Zukunft kann nur übernehmen, wer bereit ist, das Vermächtnis der Geschichte zu verstehen - und Konsequenzen zu ziehen.
Was damals im Namen Deutschlands geschah, darf in unserem Land nie vergessen werden. Die Erinnerung daran verbindet Vergangenheit und Zukunft.
Vor 57 Jahren, in der Nacht vom 18. zum 19. April 1943, begann der Aufstand im Warschauer Ghetto. In den Wochen zuvor hatte die SS von dort Tausende deportiert und in die Vernichtungslager gebracht. Nun trafen die Schergen des Naziregimes auf organisierten Widerstand.
Die Menschen im Ghetto kämpften, obwohl sie wussten, dass ihr Widerstand aussichtslos war. Fünfzigtausend Männer und Frauen opferten sich in diesem Kampf. Sie verteidigten Straßenzug um Straßenzug, Haus um Haus gegen Panzer, Artillerie und Flammenwerfer. Viele von ihnen blieben in den brennenden Häusern. Sie wollten sich nicht der SS ausliefern.
Der Kampf dauerte bis zum 16. Mai 1943. Dann war der Widerstand der Verzweifelten gebrochen, das Ghetto wurde geräumt. Wer überlebt hatte, wurde ins KZ gebracht und dort ermordet. Die Menschen im Ghetto kämpften und starben für die Würde, Ehre und Unantastbarkeit des Einzelnen. Sie haben ein Mahnzeichen für nachfolgende Generationen gesetzt.
Nicht nur zu Jom Hashoah, dem Gedenktag für die Opfer des Holocaust, - nicht nur heute, sondern immer wieder müssen wir, die heutige Generation, uns fragen - und fragen lassen -, ob wir dieses Mahnzeichen wirklich verstanden haben.
Erinnerung an diese schreckliche Zeit ist - wenn sie sinnvoll sein soll - immer auch Herausforderung zur Wachsamkeit.
Ich frage mich selbst, ich frage alle, die in unserem Land politische Verantwortung tragen:
Sind wir wachsam genug?
Wie lange wollen wir es noch hinnehmen, dass wieder Neonazis durch die Straßen der deutschen Hauptstadt ziehen - durch das Brandenburger Tor und unmittelbar vorbei am Gelände des künftigen Holocaust-Denkmals?
Ich halte dies für unerträglich.
Ich sage auch hier, was ich bereits an anderer Stelle öffentlich erklärt habe: Das Demonstrationsrecht hat in unserem Rechtsstaat einen hohen Stellenwert. Wenn es jedoch für Aktivitäten missbraucht werden kann, die unserem Land - und damit jedem von uns - schaden, sind die Parlamente - über Parteigegensätze hinweg - als Gesetzgeber zum Handeln aufgerufen.
Die Demokratie muss sich rechtzeitig gegen ihre Feinde wehren. Sie wird durch begrenzte Einschränkungen des Demonstrationsrechts weder geschwächt noch gar gefährdet.
Schon einmal haben die Feinde der Demokratie jene Freiheitsrechte, die die Verfassung allen Bürgern gewährt, missbraucht, um die Demokratie zu zerstören.
Neonazistische Aufmärsche im Zentrum Berlins schaden dem Ansehen unseres Landes in der Welt. Sie gefährden unsere Glaubwürdigkeit. Deutschland ist heute eine stabile Demokratie, der überall in der Welt Vertrauen entgegengebracht wird. Dieses Vertrauen dürfen wir nicht aufs Spiel setzen.
Eine ganz besondere Verpflichtung aber haben wir auch dabei gegenüber unseren Mitbürgern jüdischen Glaubens und jüdischer Herkunft. Sie sind nach dem Zweiten Weltkrieg und nach dem Holocaust in unsere Stadt zurückgekehrt, um mit uns zu leben. Dies war und ist ein unvergleichlicher Vertrauensbeweis.
Für mich persönlich ist die Tatsache, dass Heinz Berggruen nicht nur nach Berlin zurückgekehrt ist, sondern der Stadt auch noch seine weltbekannte Sammlung als Leihgabe zur Verfügung gestellt hat, außerordentlich bewundernswert.
Umso mehr erschreckt es mich, dass in unserem Land - wie aus dem jüngsten Bericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz hervorgeht - 1999 die Zahl der rechtsextremistischen Gewalttaten zugenommen hat.
Besorgniserregend ist der Missbrauch des Internets für neonazistische Propaganda. Im Jahre 1999 betrieben deutsche Rechtsextremisten im Internet 330 Homepages, im Vorjahr waren es noch 200. Hier sind die Gesetzgeber im In- und Ausland gefordert, diesem Treiben Einhalt zu gebieten.
Angesichts solcher Entwicklungen bleibt die Information und Aufklärung junger Menschen über die Vergangenheit weiterhin eine vordringliche Aufgabe. Das Entstehen des Nationalsozialismus, seine verhängnisvollen Auswirkungen und die Verpflichtungen, die uns aus der deutschen Vergangenheit erwachsen, müssen Thema des Geschichtsunterrichtes der Schulen bleiben und noch breiteren Raum erhalten. Auch die Medien bleiben hierzu auf Dauer in der Pflicht. Positiv zu vermerken ist die erfreuliche Resonanz auf den Internet-Wettbewerb des Abgeordnetenhauses von Berlin, bei dem Jugendliche aufgefordert waren, mit eigenen Seiten im Internet gegen die neonazistische Propaganda vorzugehen.
Unser Umgang mit der Vergangenheit und mit dem Vermächtnis der Opfer des Holocaust wird immer der Gradmesser unserer politischen und persönlichen Glaubwürdigkeit sein. Toleranz zu leben im Miteinander mit allen Bevölkerungsgruppen - gleich welcher Religion oder Herkunft - ist eine Herausforderung, der wir uns täglich stellen müssen.