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Ein Stapel Zeitungen

Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus - Rede des Parlamentspräsidenten Dennis Buchner

In der heutigen Plenarsitzung am 26. Januar 2023 hielt Parlamentspräsident Dennis Buchner eine Gedenkrede zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, der morgen begangen wird.

Hier die Rede im Wortlaut:

 

„Der morgige 27. Januar ist unser nationaler Gedenktag für die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Er erinnert an die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz vor 78 Jahren.

Vernichtungslager. Was für ein Wort. Was für ein monströses Verbrechen, das dahinter steht.

Wir dürfen niemals vergessen.

Wir dürfen nicht vergessen, dass wir Deutsche den Zweiten Weltkrieg begonnen haben. Einen Krieg, in dessen Folge schätzungsweise 60 bis 70 Millionen Menschen ihr Leben verloren haben.

Wir dürfen nicht vergessen, dass Deutsche sechs Millionen Jüdinnen und Juden verfolgt, gequält und grausam ermordet haben. Menschen, die aus unserer Mitte kamen. Menschen wie Artur, Auguste und Ralph, die Eltern und der Bruder unserer Berliner Ehrenbürgerin Margot Friedländer.

Wir dürfen nicht vergessen, dass bis zu 500.000 Sinti und Roma im Holocaust ermordet wurden. Auch die Reinickendorferin Erna Lauenburger und ihre beiden kleinen Töchter Marie und Bärbel.

Wir dürfen nicht vergessen, dass fast 200.000 Menschen im Zuge der sogenannten Euthanasie ermordet wurden. In der vergangenen Woche haben Schülerinnen und Schüler im Rahmen unseres Jugendforums denk!mal an das Schicksal so vieler Berliner Kinder erinnert, die aus unserer Mitte gerissen wurden, weil ihr Leben von den Nazis als ‘unwert‘ betrachtet wurde. Einer von ihnen war der 15-jährige Paul Höhlmann, der geistig beeinträchtigt war.

Die morgige Gedenkstunde im Deutschen Bundestag wird besonders die Tausenden homosexuellen Opfer des Naziregimes in den Blick nehmen. Männer und Frauen wie beispielsweise der Pfarrer der Immanuelkirche, Friedrich Klein, den die Nazis aus seiner Gemeinde entfernten, zur Strafhaft verurteilten und schließlich ‘als Bewährung‘ in den Fronteinsatz, den sicheren Tod, schickten.

Und wir dürfen all diejenigen nicht vergessen, die sich politisch und intellektuell gegen die Nationalsozialisten engagierten und dafür mit ihrem Leben bezahlten. Die Berliner Schriftsteller Carl von Ossietzky und Erich Mühsam oder der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Julius Leber sind Beispiele, die uns auch heute noch Vorbild sein sollten.

In diesen Tagen vor 90 Jahren, am 30. Januar 1933, wurde Adolf Hitler Reichskanzler. Eine Machtergreifung war das keineswegs. In einer Gesellschaft, in der antidemokratisches Denken weiterhin stark verankert war, in der defizitären politischen Ordnung der Weimarer Republik, in der unter Anwendung des Notverordnungsrechts Reichskanzler ohne Mehrheit im Parlament vom Reichspräsidenten ernannt werden konnten, in einer wirtschaftlich schwierigen Zeit, bekam Hitler die Macht schlicht übergeben. In der falsche Annahme der Nationalkonservativen, man werde ihn schon im Griff haben.

Und so endete vor 90 Jahren auch in Berlin eine bis dato einmalige und dennoch auch fragile Phase des friedlichen und fruchtbaren Zusammenlebens aller Menschen in unserer Stadt. Berlins Rolle als pulsierende Metropole der 1920er Jahre wäre ohne seine lebendige, tolerante und offene Gesellschaft nicht denkbar gewesen.

All das fand mit dem 30. Januar 1933 ein jähes Ende.

Erinnert sei an die sogenannte Reichstagsbrand-Verordnung vom Februar 1933, die sämtliche Bürgerrechte einschränkte, erst recht für jüdische Menschen in Deutschland.

Erinnert sei auch daran, dass die Wahlen vom 5. März 1933, trotz massivster Repressionen, nur eine relative Mehrheit für die Nationalsozialisten brachten.

Die aber sogleich genutzt wurde:

Das ‘Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums‘ entfernte Jüdinnen und Juden aus dem Staatsdienst und mit dem ersten Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933, zu dem die Nationalsozialisten aufriefen, ging die Stimmungsmache weiter. Wie so oft in der Geschichte waren es zuerst Stimmungen und Worte, dann Taten, die die Katastrophe auslösten, die spätestens ab 1938 in den Gewaltexzessen der Pogromnacht für alle sichtbar wurden.

Mit dem Ermächtigungsgesetz wurde die demokratische Gewaltenteilung, wurde der Parlamentarismus in Deutschland abgeschafft. Keine zwei Monate waren zu diesem Zeitpunkt seit der Machtübergabe an Hitler vergangen. Am 23. März jährt sich auch diese historische Parlamentsdebatte zum 90. Mal, in deren Folge sich der Reichstag ohne die bereits inhaftierten oder geflohenen Kommunisten und einzig gegen den Widerstand der sozialdemokratischen Fraktion selbst entmachtete. Gleiches geschah im Mai 1933 auch in diesem Haus, dem ehemaligen Preußischen Landtag.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

es ist wichtig, dass unsere Stadt und unsere vielfältige, vielstimmige Stadtgesellschaft sich dieser Verbrechen und auch des ungeheuren menschlichen wie kulturellen Verlusts bewusst bleibt – dass Erinnerung gelebt wird. An diesem Gedenktag, aber auch an allen anderen 364 Tagen im Jahr. Und dass das wiedererstandene lebendige jüdische Leben in Berlin als eine Selbstverständlichkeit und Bereicherung angesehen wird.

Wir müssen uns immer wieder selbst vergewissern, dass in Deutschland zwischen 1933 und 1945 sämtliche Pfade einer zivilisierten, einer kultivierten Gesellschaft verlassen wurden. Jegliche Rechtssicherheit wurde abgeschafft, politisch Andersdenkende wurden verfolgt, gefoltert, inhaftiert, brutal ermordet. Bücher wurden verbrannt, später dann auch in unvorstellbaren Dimensionen Menschenleben vernichtet.

Diese Entgrenzung, diese Aufgabe aller Werte ist geschehen. Sie war Wirklichkeit. Und es geschah in Deutschland. Es geschah in unserem Land.

Das, was die Nationalsozialisten in Deutschland anrichteten, und was später in andere europäische Länder hinein getragen wurde, war Barbarei im teuflischen Sinne: kulturverachtend, werteverachtend, menschenverachtend.

Daraus folgt die historische Verantwortung für alle Opfer. Sie lässt sich nicht einfach abstreifen.

Und es kann auch keinen Schlussstrich geben, das ist der Auftrag an uns alle.

Und dieser Auftrag macht uns alle hoffentlich sensibel gegenüber den gegenwärtigen Entwicklungen in unserer Gesellschaft, denn wir müssen bedenken: Das was in Diktaturen Realität ist, bereitet sich in demokratischen und freiheitlichen Gesellschaften vor.

‘Wer Fremdgesindel durchfüttert, statt es abzuschieben, wird früher oder später nicht mehr Herr im eigenen Haus. Ähnlich verhält es sich bei Ungeziefer und Ratten.‘

Dieser Satz stammt nicht aus der Rassenideologie der Nazis. Er stand am 12. Januar, also vor 14 Tagen, als Kommentar unter einem Facebook-Beitrag der Berliner Zeitung. Unmoderiert. Unkommentiert. Und vermutlich auch nicht zur Anzeige gebracht.

Es sind Erlebnisse wie diese, die zeigen: Nie wieder dürfen wir Menschen anhand ihrer Herkunft, ihres Glaubens, ihrer Sexualität, ihres Gesundheitszustandes oder ihres Aussehens in gut oder schlecht einteilen. Wonach wir Menschen bewerten, darf nicht vom Bildungsstand, vom Einkommen und auch weder vom Vor- noch vom Nachnamen abhängig sein.

Eine starke Demokratie gestalten, das funktioniert nur, wenn gemeinsame Werte und Normen gelten.

Unser Grundgesetz und demokratisch beschlossene Gesetze sind dafür eine gute Grundlage.

Die Geschichte lehrt uns, dass es immer einen Anfang gibt.

Er darf sich nur nicht verstetigen. Denn dann hat der Anfang kein Ende mehr.

Deshalb gilt:

Bei Antisemitismus, jeder Form der Menschenfeindlichkeit und antidemokratischen Tendenzen dürfen wir nicht wegsehen. All das müssen wir gemeinsam bekämpfen, denn die Demokratie darf gegenüber ihren Feinden nicht wehrlos sein und bleiben.

Das ist die Lehre aus der Geschichte, die wir neben dem Erinnern den Opfern schuldig sind.“