Priv.-Doz. Dr. Otmar Jung

Berlin, den 9. März 2005

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Übersicht

 

 

 

A. Bemerkungen zum Entwurf eines Fünften Gesetzes zur Änderung der Verfassung von Berlin (Drucksache 15/3707 v. 24. 2. 2005)

 

 

S. 2

 

I. Zu der vorgeschlagenen Änderung des Art. 3 Abs. 1

 

2

 

II. Zu der vorgeschlagenen Ergänzung des Art. 72 um einen Abs. 2

 

4

 

 

 

B. Bemerkungen zum Entwurf eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Bezirksverwaltungsgesetzes (Drucksache 15/3708 v. 24. 2. 2005)

 

 

5

 

I. Zu der vorgeschlagenen Hürde beim Bürgerbegehren

 

5

 

II. Zu dem vorgeschlagenen Quorum beim Bürgerentscheid

 

7

 

III. Zu den möglichen Gegenständen von Bürgerbegehren

 

10

 

IV. Zu der vorgesehenen Sperrwirkung

 

11

 

V. Zum Fehlen einer Bindungswirkung

 

11

 

 

 

C. Zusammenfassung

13


A. Bemerkungen zum Entwurf eines Fünften Gesetzes zur Änderung der Verfassung von Berlin (Drucksache 15/3707 v. 24. 2. 2005)

 

 

Die vorgesehenen Änderungen der Art. 3 Abs. 1 und 72 sind geboten, wie nach den einschlägigen Gutachten des Wissenschaftlichen Parlamentsdienstes des Abgeordnetenhauses vom 22. März 1999[1] und vom 15. September 2000[2] unstreitig sein dürfte.

 

I. Zu der vorgeschlagenen Änderung des Art. 3 Abs. 1

 

1. Bei dieser vorgeschlagenen Änderung fällt auf, daß Satz 1, was direkte Demokratie angeht, auf der Landesebene nur die Entscheidungsform („Volksabstimmung“), aber nicht das Qualifikationsverfahren („Volksbegehren“) erwähnt wird, während auf der Bezirksebene sowohl die Qualifizierungsstufe („Bürgerbegehren“) als auch die Entscheidungsform („Bürgerentscheid“) aufgeführt werden. Da die für die Landesebene getroffene schlankere Lösung vorzuziehen ist, wird hiermit angeregt, auf der Bezirksebene das Bürgerbegehren ebenfalls zu streichen und – nach einer stilistischen Anpassung – zu formulieren: „… sowie in den Bezirken im Wege des Bürgerentscheids ausgeübt“.

 

2. Darüber hinaus enthält der Entwurf zu Satz 1 zwei Änderungen, zu denen die Begründung kein Wort verliert, obwohl sie nicht ohne Bedeutung sind.

 

a) Die Verfassung von Berlin enthält eine terminologische Differenzierung: Bei direktdemokratischen Verfahren, die „von unten“ ausgelöst werden (Volksgesetzgebung, Art. 63, und plebiszitäre Parlamentsauflösung, Art. 54 Abs. 3 und 4, 63 Abs. 3), heißt der Schlußakt des Verfahrens „Volksentscheid“. Dagegen bezeichnet die Verfassung bei jenen direktdemokratischen Verfahren, die „von oben“ ausgelöst werden, also den Referenden (zur Vereinigung mit Brandenburg, Art. 97 Abs. 2 und 5, zur Verfassungsänderung, Art. 100 Satz 2), den Schlußakt als „Volksabstimmung“. Die in der bisherigen Fassung des Art. 3 Abs. 1 Satz 1 erwähnte „Abstimmung“ kann man als Oberbegriff für Volksentscheid und Volksabstimmung verstehen. Von daher wirkt es zumindest mißverständlich, wenn der Entwurf in Art. 3 Abs. 1 Satz 1 jetzt vom Wege der „Volksabstimmung“ spricht, also den bisher für Referenden benutzten Terminus aufgreift. Natürlich können dann Kommentatoren erläutern, daß die „Volksabstimmung“ im Sinne des Art. 3 Abs. 1 Satz 1 nicht nur die „Volksabstimmungen“ im Sinne der Art. 97 und 100 meine, sondern auch die „Volksentscheide“ im Sinne der Art. 54 und 63; aber eine terminologische Irritation bleibt.

 

b) Der Entwurf kehrt die Reihenfolge bezüglich der gesetzgebenden Gewalt um. Bislang ist von „Abstimmung und … Volksvertretung“ die Rede, künftig soll es „Volksvertretung und … Volksabstimmung“ heißen. Dies ist nicht belanglos. Die neue Reihenfolge verstößt nicht nur gegen die demokratische Etikette, vielmehr wurde in der verfassungsgerichtlichen Judikatur schon argumentiert, eine Aufzählung „entgegen der an sich angezeigten alphabetischen Reihenfolge“ bringe „eine inhaltlich-wertende Ordnung zum Ausdruck“[3]; um wieviel mehr liegt eine solche Argumentation nahe, wenn zugleich die bisherige Reihenfolge umgekehrt wird.

 

3. Wenn die Fundamentalbestimmung des Art. 3 Abs. 1 ohnehin geändert werden soll, bietet es sich an, einen Fehlgriff zu korrigieren, der diese Vorschrift von Anfang an prägte: daß immer von Organen die Rede ist – „wer handelt“? (also die Volksvertretung, die Regierung, die Verwaltung und die Gerichte) –, aber einmal von einem Verfahren – „wie wird gehandelt“? (durch Abstimmung). Konsequent wäre es gewesen, entweder durchweg Verfahren aufzuzählen: Dann hätte Art. 3 Abs. 1 Satz 1 lauten müssen: „durch Abstimmung und durch Beschlüsse der Volksvertretung“. Oder aber man stellt konsequent auf Organe ab, also „durch das Volk und die Volksvertretung“. Die letztere Formulierung verwenden übrigens grundsätzlich auch die Verfassungen von Bayern (Art. 5 Abs. 1), Bremen (Art. 67. 1), Nordrhein-Westfalen (Art. 3 Abs. 1), Sachsen (Art. 3 Abs. 2 Satz 1) und Thüringen (Art. 47 Abs. 1), während die Berliner Formulierung nur noch einmal in der Brandenburger Verfassung auftaucht (Art. 2 Abs. 4 Satz 1).

Damit ergibt sich folgende Formulierung, die abschließend dringend empfohlen wird:


 

„Die gesetzgebende Gewalt wird durch das Volk und die Volksvertretung, die vollziehende Gewalt durch die Regierung und die Verwaltung sowie in den Bezirken durch die Bürger ausgeübt.“

 

Vorsichtshalber sei darauf hingewiesen, daß, da die Berliner Verfassung ansonsten (noch) keine geschlechtsspezifischen Verdoppelungen enthält, hier ein Sprachgebrauch „die Bürgerinnen und Bürger“ stören würde.

 

 

II. Zu der vorgeschlagenen Ergänzung des Art. 72 um einen Abs. 2

 

An dem vorgeschlagenen Text fällt auf, daß in einem einzigen Satz dreimal das sperrige Wort „Bezirksverordnetenversammlung“ mit seinen neun Silben vorkommt. Dies legt den Versuch einer weniger kautelarjuristischen, eher verfassungsangemessenen Formulierung nahe.

Erster Vorschlag: Die Klausel „im Rahmen der Zuständigkeit der Bezirksverordnetenversammlung“ kann gestrichen werden, weil sich ihr Inhalt von selbst versteht. Wenn an Stelle eines Beschlusses der Bezirksverordnetenversammlung eine andere Entscheidungsform tritt, ist schon rechtslogisch klar, daß damit keine Kompetenzänderung verbunden ist. Aus dem An-die-Stelle-Treten folgt zwingend, daß ein Bürgerentscheid kompetenziell nicht mehr vermag, als es ein Beschluß der Bezirksverordnetenversammlung selbst könnte.

Zweiter Vorschlag: Daß sich die Wahlberechtigung auf die Wahl der Bezirksverordnetenversammlung bezieht, ist ebenfalls selbstverständlich. Weil ein Bürgerentscheid an die Stelle eines Beschlusses der Bezirksverordnetenversammlung tritt, kann sich seine Legitimation nur auf die Bezirksebene beziehen; auf die Wahlberechtigung zu anderen Parlamenten abzustellen (etwa zum Deutschen Bundestag), wäre einfach unvernünftig.

Damit bietet sich folgende vergleichsweise schlanke Formulierung für Abs. 2 Satz 1 an:

 

„An die Stelle von Beschlüssen der Bezirksverordnetenversammlung können Abstimmungen der wahlberechtigten Bürger des Bezirks (Bürgerentscheide) treten.“

 

*

 


 

B. Bemerkungen zum Entwurf eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Bezirksverwaltungsgesetzes (Drucksache 15/3708 v. 24. 2. 2005)

 

 

I. Zu der vorgeschlagenen Hürde beim Bürgerbegehren

 

1. Daß ein Bürgerbegehren zustande gekommen sein soll, wenn 3 % der Wahlberechtigten innerhalb von sechs Monaten das Begehren unterstützen (§ 45 Abs. 3 Satz 1 E-BezVG), ist eine bedeutende Erleichterung gegenüber der bisherigen Rechtslage (10 % in zwei Monaten). Kombiniert man die beiden Faktoren „Prozentsatz der Stimmberechtigten“ und „Zeit für die Unterschriftensammlung“ als sogenannten Mobilisierungskoeffizienten – das Maß des auf den Initiatoren bei diesem Relevanztest lastenden Drucks[4] –, so ergibt sich, daß es künftig nur noch ein Zehntel so schwer wie bisher ist, ein Bürgerbegehren zustande zu bringen. Politisch gewertet: Nachdem die bisherige Bürgerbegehrenshürde – auch im Verhältnis zur Auslegungsfrist – „sehr hoch“ ist[5], senkt der vorliegende Entwurf diese Hürde nun energisch auf ein für die direktdemokratische Praxis freundliches Maß.

 

2. Die Freundlichkeit der vorgeschlagenen Regelung bestätigt sich auch im Vergleich mit anderen wichtigen Normierungen dieser Materie in Deutschland.

 

a)      Das bayerische Kommunalverfassungsrecht sieht seit einem Volksgesetz von 1995[6] eine degressive Hürde beim Bürgerbegehren vor, wobei die 3-%-Stufe erst für Städte über 500.000 Einwohner – praktisch also für München – gilt. In dem knapp unter 500.000 Einwohner zählenden Nürnberg – weit größer als jeder Berliner Bezirk – müssen sich dagegen noch 5 % der Bürgerinnen und Bürger bei einem Bürgerbegehren eintragen[7]. Eine Eintragungsfrist gibt es in Bayern nicht.

b)      Auch nach der Gemeindeordnung von Nordrhein-Westfalen gilt seit einer Novelle im Jahre 2000 für Großstädte zwischen 200.000 und 500.000 Einwohner – also in der Größenordnung der Berliner Bezirke – noch eine Hürde von 4 %. Erst für Großstädte über 500.000 Einwohner – das sind Köln, Essen, Dortmund, Düsseldorf und Duisburg – tritt die 3-%-Stufe ein[8]. Die Eintragungsfrist beträgt bei Bürgerbegehren, die sich gegen einen Beschluß des Rates richten, sechs Wochen bzw. drei Monate.

c)      Die 550.000 Einwohner der Stadtgemeinde Bremen sind vergleichsweise deutlicher schlechter gestellt. Für ein stadtbremisches Volksbegehren müssen sich 10 % der Stimmberechtigten eintragen[9].

d)      Noch etwas freundlicher für direkte Demokratie als die vorgeschlagene Regelung ist die – ihrerseits durch Volksentscheid 1998 geschaffene[10] – Rechtslage in Hamburg. Hier müssen sich beim Bürgerbegehren generell 3 % der Wahlberechtigten eines Bezirks innerhalb von sechs Monaten eintragen. Für Bezirke mit mehr als 300.000 Einwohnern wurde die Hürde noch einmal auf 2 % ermäßigt[11]. Während in Hamburg davon zur Zeit nur die Bürgerinnen und Bürger eines Bezirks (von sieben) profitieren – Wandsbek –, kämen, die hamburgische Staffelung auf Berlin übertragen, immerhin in fünf der zwölf Bezirke – nämlich in Mitte, Pankow, Charlottenburg-Wilmersdorf, Tempelhof-Schöneberg und Neukölln – die Bürgerinnen und Bürger in den Genuß dieser weiteren Erleichterung.

 

3. Ergebnis: Der vorgelegte Entwurf begünstigt die direktdemokratische Partizipation in den Berliner Bezirken in einem hier bislang ganz ungewohnten Maße. Im innerdeutschen Vergleich „katapultiert“ er die Bürgerinnen und Bürger der Berliner Bezirke, die bislang überhaupt nicht abstimmen durften, von der Schlußposition des Kommunalverfassungsrechts auf einen Spitzenplatz, deutlich vor den bayerischen und nordrhein-westfälischen Großstädten, von der Stadtgemeinde Bremen ganz zu schweigen. Gleichwohl liegen nach dem Entwurf die Berliner Bezirke nicht so weit vorn, daß jetzt den Verantwortlichen sozusagen schwindelig werden müßte, wie die noch etwas günstigere Regelung in Hamburg zeigt.

 

 

II. Zu dem vorgeschlagenen Quorum beim Bürgerentscheid

 

1. Nach § 47 Abs. 1 Satz 1 E-BezVG muß beim Bürgerentscheid nicht nur eine Mehrheit der Abstimmenden über die Vorlage mit Ja entscheiden – das ist eine demokratische Selbstverständlichkeit –, sondern es müssen sich, damit die Vorlage als angenommen gilt, zugleich mindestens 15 % der Wahlberechtigten an der Abstimmung beteiligt haben. Da es eine entsprechende Regelung in Berlin bisher nicht gibt – das direktdemokratische Verfahren endet mit dem Bürgerbegehren –, kann sofort zum Vergleich mit wichtigen anderen Kommunalverfassungsrechten geschritten werden.

 

a)        Das radikaldemokratische, aus der Schweiz und den US-Bundesstaaten bekannte und bewährte Prinzip, daß die einfache Mehrheit derer entscheidet, die an die Urnen kommen und sich mit Ja oder Nein entscheiden – ohne jedes Quorum –, haben die beiden Volksgesetze von Bayern 1995 und Hamburg 1998 in das deutsche Kommunalverfassungsrecht eingeführt. Die bayerische Regelung wurde nach einer umstrittenen Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs 1999 novelliert. Seitdem gilt ein degressives Zustimmungs- bzw. Abstimmungsquorum. Für die hier interessierenden Gemeinden über 100.000 Einwohner – also für München, Nürnberg, Augsburg, Würzburg und Regensburg – beträgt dieses 10 %[12].

b)        In Nordrhein-Westfalen gilt seit der Novelle von 2000 für Bürgerentscheide ein einheitliches Zustimmungs- bzw. Abstimmungsquorum von 20 %[13].

c)        Einem stadtbremischen Volksbegehren müssen beim Volksentscheid 25 % der Stimmberechtigten zugestimmt haben, damit es als angenommen gilt.

d)        In Hamburg ist die radikaldemokratische Quorenfreiheit des Volksgesetzes von 1998 – „Es entscheidet die Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen“[14] – bislang nicht angetastet worden.

 

2. Zur vergleichsweisen Einschätzung der vorgeschlagenen Regelung sind einige Grundtatsachen aus der Erfahrung mit direkter Demokratie in Erinnerung zu rufen.

 

a)      Warum der Entwurf überhaupt ein Quorum vorsieht, ist nicht recht einsichtig. Die Einzelbegründung zu Art. I Nr. 6 paraphrasiert nur die vorgeschlagene Regelung, gibt aber keine Gründe im eigentlichen Sinne an. Der Satz aus der Allgemeinen Begründung zu 1., letzter Absatz, die Quoren u. a. beim Bürgerentscheid seien „bewußt niedrig gehalten, um zu erreichen, daß nicht die entscheiden, die nicht hingehen, sondern diejenigen, die sich daran beteiligen“, liegt jedenfalls in der Logik eines Denkens, das konsequent zu Quorenfreiheit führt. Der Sinn einer quorenlosen Abstimmungsregel ist ja nicht – wie das häufige Mißverständnis lautet –, einer Minderheit die Macht zu überlassen, sondern die Mehrheit zu Aktivität anzuspornen mit der Botschaft: „Jetzt gilt’s!“ Dieser Ansatz funktioniert auch, wie die quorenlose Staatspraxis in der Schweiz auf allen staatlichen Ebenen, in den US-Bundesstaaten sowie in Deutschland auf Landesebene in Bayern und Sachsen – in Bayern bis 1999 sogar bei verfassungsändernden Gesetzentwürfen – und auf Kommunalebene in Bayern von 1995 bis 1999 und in Hamburg seit 1998 bis heute beweist – übrigens ohne daß es zu den oft befürchteten Unzuträglichkeiten gekommen wäre. Verfassungsrechtliche Einwände bestehen nicht gegen die Quorenfreiheit als solche, sondern allenfalls gegen ihre Kombination mit anderen Regelungen; darauf ist noch einzugehen.

b)      Der große theoretische Unterschied zwischen einem Zustimmungs- und einem Beteiligungsquorum schrumpft in der politischen Praxis rapide angesichts einer politischen Kultur, in der es die Sachgegner häufig vorziehen, zu Hause zu bleiben, und die Befürworter eines direktdemokratischen Projekts allein zur Urne gehen zu lassen – in der klaren Hoffnung, daß diese das Quorum verfehlen. Die seit Weimarer Zeiten bekannte Boykottechnik, heute in Italien auf nationaler Ebene zu studieren, ist unfair, aber hat enorme Vorteile:

Ø                Boykott ist effektiv – man kann, da nun das Abstimmungsgeheimnis faktisch aufgehoben ist (wer überhaupt zur Abstimmung geht, „outet“ sich als Befürworter), den Sozialdruck nutzen.

Ø                Boykott ist billig – man spart sich die ganze Mobilisierungslast einer „Stimmt mit Nein“-Kampagne.

Ø                Boykott ist sicher – gegen die nachträgliche interpretative Vereinnahmung sämtlicher Nichterschienener als überzeugte Sachgegner können jene sich ja schlecht wehren.[15]

Wichtig ist nun zu erkennen, dass es sich dabei nicht um ein Fehlverhalten aufgrund menschlicher Bosheit handelt, sondern daß die betreffenden Akteure völlig logisch handeln. Die Sachgegner müssen es von der Logik des Reglements her den Befürwortern überlassen, das Beteiligungsquorum aus eigenen Kräften zu überwinden[16]. Diese politische Kultur wird sich vielleicht einmal ändern. Aber vorerst ist für praktische Vergleichszwecke davon auszugehen, daß das vorgesehene 15%ige Beteiligungsquorum wie ein 15%iges Zustimmungsquorum wirken wird. Die Versuchung zu dem angesprochenen Boykott beginnt relativ früh. Bei einem 30%igen Zustimmungsquorum wie im baden-württembergischen Kommunalverfassungsrecht ist die einschlägige Versuchung schon fast übermächtig. 15 % erscheint, zwischen dem bayerischen und dem nordrhein-westfälischen Wert gelegen, als eine vertretbare Anforderung.

c)      Man darf die Partizipation bei Bürgerentscheiden nicht unreflektiert mit der Beteiligung bei Wahlen, etwa gar bei Bundestagswahlen mit Spitzenwerten von 80 % plus x, vergleichen. Es wäre unfair, die Bedeutung eines Bürgerentscheids, bei dem immer nur eine einzelne Sachfrage beantwortet wird, zu vergleichen mit dem Gewicht einer allgemeinen Wahl, bei der über die Gesamtpolitik für die nächsten vier oder fünf Jahre zu entscheiden ist und noch das Spannungsmoment der Personalkonkurrenz dazukommt, dazu bei der Wahl der Bezirksverordnetenversammlungen der „Huckepack“-Effekt gleichzeitiger Wahlen zum Abgeordnetenhaus. Geht man davon aus, daß sich an den letzten Wahlen zu den Bezirksverordnetenversammlungen 66,9 % (2001) bzw. 64,4 % (1999) der Wahlberechtigten beteiligten, dann ist es durchaus respektabel, wenn sich 15 % des Elektorats für eine Einzelfrage zum Urnengang bewegen lassen, zumal da der größte Teil von ihnen der Vorlage zustimmen dürfte.

 

3. Ergebnis: Das vorgesehene 15%ige Beteiligungsquorum erscheint als vernünftiger Kompromiß, um einerseits hinreichende Legitimation für die getroffene Sachentscheidung zu vermitteln und andererseits keine Versuchung zum Boykott zu nähren.

 

 

III. Zu den möglichen Gegenständen von Bürgerbegehren

 

1. In den deutschen Kommunalverfassungsrechten ist durchweg festgelegt, daß sich die kommunale Direktdemokratie grundsätzlich an den Kompetenzen der Gemeindevertretungen orientiert, und dann folgen mehr oder minder lange sogenannte Negativkataloge, die aufzählen, was alles von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid ausgeschlossen ist. Die Folgen dieser Negativkataloge für die Praxis direkter Demokratie sind kaum zu überschätzen, wenn etwa in Nordrhein-Westfalen alle Planungsverfahren tabuisiert sind[17], über die in Bayern besonders gern abgestimmt wird[18]. Auch in Hamburg bestimmt das Volksgesetz von 1998, daß „Personalentscheidungen und Beschlüsse über den Haushalt“ vom Bürgerbegehren ausgenommen sind[19].

 

2. Von daher erscheint die Regelung des § 45 Abs. 1 Satz 1 E-BezVG, der das Bürgerbegehren für alle Angelegenheiten öffnet, in denen die Bezirksverordnetenversammlung nach den §§ 12 f. E-BezVG Beschlüsse fassen kann, ausnehmend großzügig. Der Satz 2 ist kein Negativkatalog wie etwa noch der geltende § 42 BezVG. Was das Bundesrecht angeht, spricht er nur eine Selbstverständlichkeit aus; in Bezug auf das Landesrecht setzt er allerdings die Lex-posterior-Regel außer Kraft.

 

 

IV. Zu der vorgesehenen Sperrwirkung

 

Die in § 45 Abs. 5 E-BezVG vorgesehene Regelung, daß nach Abgabe der Hälfte der benötigten Unterschriften – also der Unterschriften von 1,5 % der Stimmberechtigten – eine im einzelnen ausgeführte sogenannte Sperrwirkung eintritt, ist grundsätzlich – leider – notwendig. Die einschlägige Judikatur ist voll von Fällen, in denen Repräsentativorgane angesichts eines „drohenden“ Bürgerbegehrens noch schnell vollendete Tatsachen zu schaffen suchten – ob da rasch langfristige Verträge geschlossen oder die zu schützenden Alleebäume erst einmal gefällt bzw. das umstrittene Biotop einfach mit Schutt aufgefüllt wurden. Diskutiert werden kann daher nur über den Zeitpunkt bzw. die Voraussetzungen dieser Sperrwirkung. Überwiegend wird diese freilich in den Kommunalverfassungsrechten gar nicht geregelt – so etwa in Nordrhein-Westfalen[20] –, sondern man gibt das Problem den Gerichten anheim, die gegebenenfalls für einstweiligen Rechtsschutz sorgen mögen. In Bayern (seit der Novelle von 1999) und Sachsen tritt die Sperrwirkung erst deutlich später ein, nämlich mit der Feststellung der Zulässigkeit eines Bürgerbegehrens[21]. Die vorgeschlagene Regelung ist also gewiß sehr partizipationsfreundlich, freilich noch nicht die günstigst-mögliche Variante. In den beiden Volksgesetzen von Bayern 1995 und Hamburg 1998 wurde eine Sperrwirkung schon nach Abgabe eines Drittels der erforderlichen Unterschriften festgelegt, und in Hamburg gilt diese Regelung heute noch[22].

 

 

V. Zum Fehlen einer Bindungswirkung

 

1. Die deutschen Kommunalverfassungsrechte legen typischerweise fest, daß ein Bürgerentscheid während einer von einem Jahr bis zu drei Jahren variierenden Frist nur durch einen neuen Bürgerentscheid geändert werden kann, es sei denn – setzen manche hinzu –, daß sich die Sach- oder Rechtslage seit dem ersten Bürgerentscheid wesentlich geändert hätte. Seit einer Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs von 1997[23] ist von einem verfassungsrechtlichen Zusammenhang dergestalt auszugehen, daß diese sogenannte Bindungswirkung in Korrelation zu dem jeweiligen Quorum beim Bürgerentscheid stehen muß. Daher wurde die ursprüngliche Regelung des bayerischen Volksgesetzes von 1995, das ohne Quorum beim Bürgerentscheid eine dreijährige Bindung vorsah, als verfassungswidrig verworfen. Geht man von einem solchen Zusammenhang aus, wie ihn diese – problematische[24] – Entscheidung postuliert, kann man natürlich noch – wie Hamburg – als „Preis“ der Quorenfreiheit auf die Festlegung einer (juristischen) Bindungswirkung überhaupt verzichten. Man vertraut dann allein auf das politische Gewicht einer direktdemokratischen Entscheidung, wobei freilich mit Enttäuschungen gerechnet werden muß. Erinnert sei an den Präzedenzfall auf Landesebene in Schleswig-Holstein, wo ein durch das „Ja“ von 41,6 % der Stimmberechtigten legitimiertes Volksgesetz[25] vom Parlament nach nicht einmal einem Jahr kassiert wurde mangels ausdrücklich normierter Bindungswirkung jedenfalls nach der herrschenden Meinung sogar formal korrekt[26].

 

2. Vor diesem Hintergrund ist die im vorliegenden Entwurf gewählte, in Deutschland singuläre Lösung nicht zu verstehen, daß einerseits ein Quorum beim Bürgerentscheid eingeführt und andererseits gleichwohl auf eine Bindungswirkung verzichtet wird. Deutlich formuliert: Nach der 1999 novellierten Bayerischen Gemeindeordnung reicht eine Mindestlegitimation (in den hier interessierenden Großstädten über 100.000 Einwohnern) durch 10 % der Stimmberechtigten aus, um eine einjährige Bindungsfrist zu rechtfertigen. In Nordrhein-Westfalen trägt die 20%ige Legitimation sogar eine zweijährige Bindung. Warum führt der vorliegende Entwurf für künftige, durch 15 % Beteiligung – was, wie dargelegt, praktisch auf eine 15%ige Zustimmung hinausläuft – legitimierte Bürgerentscheide nicht auch eine mindestens einjährige Bindungswirkung ein? Für Sonderfälle erscheint eine zusätzliche Flexibilisierung durch eine Clausula rebus sic stantibus sinnvoll.

Daher wird vorgeschlagen, § 47 Abs. 3 E-BezVG um einen Satz 2 zu ergänzen:

 

„Ein Bürgerentscheid kann innerhalb eines Jahres / innerhalb von zwei Jahren nur durch einen neuen Bürgerentscheid abgeändert werden, es sei denn, daß sich die dem Bürgerentscheid zugrunde liegende Sach- oder Rechtslage wesentlich geändert hat.“

 

*

 

 

C. Zusammenfassung

 

Die vorgeschlagenen Änderungen der Verfassung von Berlin und des Bezirksverwaltungsgesetzes schaffen in der Tat „Mehr Demokratie für Berlinerinnen und Berliner“. Sie enthalten – geprüft wurden die wichtigsten Checkpunkte des „Designs“ des direktdemokratischen Verfahrens – ausnehmend partizipationsfreundliche Regelungen, welche die Berliner Bezirke von ihrem letzten Platz im Ranking kommunaler Direktdemokratie auf einen Spitzenplatz befördern werden. Die Regelungen sind aber nirgendwo so kühn, daß wirklich Neuland betreten würde, vielmehr erscheinen sie oft als Varianten des hamburgischen Regelwerks, an das – bzw. an die praktischen Erfahrungen mit ihm – man sich auch halten kann, wenn nach den mutmaßlichen Auswirkungen dieser Reform gefragt wird.

Empfohlen werden für die Änderung der Verfassung von Berlin zwei andere Formulierungen und für die Änderung des Bezirksverwaltungsgesetzes eine Ergänzung (betr. eine Bindungswirkung).

 

 

Dr. Otmar Jung

 

 

Ausschuss-Kennung : VerwRefKITgcxzqsq

 



[1] Gutachten zu der Frage, ob die Einführung von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in den Bezirken eine Änderung der Verfassung von Berlin voraussetzt, 12 S.

[2] Gutachten zu einigen Gesetzesvorhaben mit dem Ziel, die Möglichkeiten der bürgerschaftlichen Mitwirkung an den bezirklichen Entscheidungsprozessen zu erweitern, und Zusammenstellung einschlägiger Vorschriften anderer Bundesländer, 103 S.

[3] ThürVerfGH, Urteil v. 19. 9. 2001, Landes- und Kommunalverwaltung 12 (2002), S. 83 (89).

[4] Der Mobilisierungskoeffizient besagt, welchen Prozentsatz der Stimmberechtigten die Betreiber eines direktdemokratischen Projekts durchschnittlich pro Tag zur Eintragung mobilisieren müssen, um am Ende der Eintragungsfrist die notwendige Unterstützung beisammen zu haben, vgl. Jung, Otmar: Verfahrensprobleme der Volksgesetzgebung. Darstellung am Beispiel der Entwürfe eines Ausführungsgesetzes in Sachsen-Anhalt, in: Zeitschrift für Gesetzgebung 8 (1993), S. 314-337 (325 f.).

[5] So das gut abwägende Urteil des hamburgischen Spezialisten für kommunale Direktdemokratie, vgl. Dressel, Andreas: Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in den Hamburger Bezirken. Ein Beitrag zur direkten Demokratie in Hamburg unter Berücksichtigung von Berlin und Bremen, Baden-Baden 2003, S. 133.

[6] Vgl. Jung, Otmar: Der Volksentscheid über die Einführung des kommunalen Bürgerentscheids in Bayern am 1. Oktober 1995, in: Jahrbuch zur Staats- und Verwaltungswissen­schaft 9 (1996), S. 191-272.

[7] Art. 18a Abs. 6 BayGemO.

[8] § 26 Abs. 4 GemO NRW.

[9] Vgl. Art. 148 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. Art. 70 Abs. 1 Satz 1 Buchst. d BremLV.

[10] Vgl. Efler, Michael: Der Kampf um Mehr Demokratie in Hamburg, in: Mehr direkte Demokratie wagen. Volksbegehren und Volksentscheid: Geschichte – Praxis – Vorschläge, hrsg. von Heußner, Hermann K./Jung, Otmar, München 1999, S. 205-222; auch in: Fünf Jahre direkte Bürgerbeteiligung in Hamburg – unter Berücksichtigung von Berlin und Bremen, hrsg. von Hans Peter Bull, Hamburg 2001, S. 77-87.

[11] § 8a Abs. 3 Satz 2 HambBezVG.

[12] Art. 18a Abs. 12 Satz 1 BayGemO.

[13] § 26 Abs. 7 Satz 2 GemO NRW.

[14] § 8a Abs. 9 Satz 2 HambBezVG.

[15] Vgl. Jung, Otmar: Das Quorenproblem beim Volksentscheid. Legitimität und Effizienz beim Abschluß des Verfahrens der Volksgesetzgebung, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 9 (1999), S. 863-898; ders.: Eckpunkte nicht überzeugend gesetzt. Wie die SPD die Beteiligungsrechte der Bürger auf Bundesebene ausbauen will, in: Recht und Politik 37 (2001), S. 61-75 (66-71).

[16] Lapidar hat S. Jung, eine scharfsinnige Demokratie-Analytikerin, festgestellt: „Problematisch sind Beteiligungsquoren allerdings insofern, als ihre Anwendung geradezu systematisch verhindert, daß dieses letztere Ziel [d. h. die Maximierung von Beteiligung] erreicht wird. Denn existieren Beteiligungsquoren, so wird das Fernbleiben von der Abstimmung für die Gruppe der Gegner einer Vorlage zur erfolgversprechenden und zugleich bequemen Strategie.“ Jung, Sabine: Die Logik direkter Demokratie, Wiesbaden 2001, S. 94.

[17] Vgl. § 26 Abs. 5 Nr. 5 und 6 GemO NRW: „Angelegenheiten, die im Rahmen eines Planfeststellungsverfahrens oder eines förmlichen Verwaltungsverfahrens mit Öffentlichkeitsbeteiligung oder eines abfallrechtlichen, immissionsschutzrechtlichen, wasserrechtlichen oder vergleichbaren Zulassungsverfahrens zu entscheiden sind, … die Aufstellung, Änderung, Ergänzung und Aufhebung von Bauleitplänen“.

[18] Vgl. Mehr Demokratie e. V. (Hrsg.): Sieben-Jahresbericht bayerischer Bürgerbegehren und Bürgerentscheide, München 2003, S. 14.

[19] § 8a Abs. 1 Satz 2 HambBezVG.

[20] Die bislang immer mitherangezogene stadtbremische Regelung scheidet für die weitere Betrachtung aus, da dort einfach die Regelungen der Verfassung für die Volksgesetzgebung auf Landesebene entsprechend anzuwenden sind (Art. 148 Abs. 1 Satz 2 BremLV). Damit kommen die im Folgenden zu untersuchenden spezifisch kommunalverfassungsrechtlichen Details dort gar nicht ins Blickfeld.

[21] Art. 18a Abs. 9 BayGemO, § 25 Abs. 3 Satz 4 SächsGemO.

[22] § 8a Abs. 5 HambBezVG.

[23] BayVerfGH, Entscheidung v. 29. 8. 1997, BayVerfGHE 50, 181-213 = Bayerische Verwaltungsblätter 128 (1997), S. 622-629.

[24] Vgl. Jung, Otmar: Kommunale Direktdemokratie mit Argusaugen gesehen. Zeithistorische, verfassungsrechtliche und rechtspolitische Bemerkungen zu der Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs vom 29. 8. 1997 [- Vf. 8 bis 11-VII-96 -], in: Bayerische Verwaltungsblätter 129 (1998), S. 225-233.

[25] Vgl. Kliegis, Brigitte/Kliegis Ulrich G.: Der Volksentscheid über die Rechtschreibreform in Schleswig-Holstein 1998, in: Mehr direkte Demokratie wagen. Volksbegehren und Volksentscheid: Geschichte – Praxis – Vorschläge, hrsg. von Heußner, Hermann K./Jung, Otmar, München 1999, S. 287-306 (302).

[26] Vgl. Jung, Otmar: „Die rebellierende Vertretung“ (H. Nawiasky). Darf das Parlament ein vom Volk beschlossenes Gesetz (ohne weiteres) kassieren? Zum Vorgehen des Schleswig-Holsteinischen Landtags im September 1999 (Fall „Rechtschreib­reform“), in: Demokratie und Selbstverwaltung in Europa. Festschrift für Dian Schefold zum 65. Geburtstag, hrsg. von Andreas Bovenschulte / Henning Grub / Franziska Alice Löhr / Matthias v. Schwanenflügel / Wiebke Wietschel, Baden-Baden 2001, S. 145-168.