Mitteilung – zur Kenntnisnahme –
Vergabe von Einwegspritzen an Gefangene zur AIDS-Prophylaxe
Drucksachen 15/13/210 und 13/490 – Schlussbericht –
Der Senat legt nachstehende Mitteilung dem Abgeordnetenhaus zur Besprechung vor:
I.
Auftrag
Das Abgeordnetenhaus hat in seiner Sitzung am 6. Juni 1996 Folgendes beschlossen:
„Der
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen über Vergabe von Einwegspritzen an
Gefangene zur AIDS-Prophylaxe – Drs 13/210 – wird in folgender Fassung angenommen.
1. Nach befürwortendem Gutachten über einen Schweizer Versuch wird der Senat gebeten, an Gefangene – ohne Maßregelvollzug – in einem vierjährigen Modellversuch zur Aids- und Hepatitisprophylaxe sterile Einwegspritzen abzugeben.
2.
Über
die Ergebnisse ist dem Abgeordnetenhaus halbjährlich, wegen der Bedeutung des
Zeitfaktors erstmalig zum 1. Februar 1997 zu berichten.“
Hierzu wird zunächst auf die Zwischenberichte vom 8. Februar 1997, 30. Juli 1997, 23. Februar 1998, 21. September 1998, 17. Februar 1999, 28.September 1999, 24. Mai 2000, 12. April 2001, 16. Januar 2002, 26. Juli 2002 und 16. Januar 2003 Bezug genommen und nunmehr abschließend berichtet:
II.
Durchführung
1. Chronologie und Setting der Spritzenvergabe in den Modellanstalten
Auf
der Grundlage des genannten Beschlusses des Abgeordnetenhauses trat die Senatsverwaltung
für Justiz 1996 in die konkrete Planung einer Vergabe steriler Einwegspritzen
ein, um dieses Angebot baldmöglichst zu realisieren. Es ging darum, der
Ansteckungsgefahr mit den Hepatitiden B und C sowie HIV im Justizvollzug noch
besser als bisher entgegenzuwirken, indem die gemeinschaftliche Benutzung von
Spritzen durch Gefangene künftig so sicher wie möglich vermieden werden sollte.
Das
Modellprojekt zur Spritzenvergabe wird seit September 1998 in der
Justizvollzugsanstalt für Frauen, örtlicher Bereich Lichtenberg, und seit
Februar 1999 in der Justizvollzugsanstalt Plötzensee im örtlichen Bereich
Lehrter Straße realisiert.
Zwischen
den beiden Anstalten bestehen signifikante Unterschiede, was die strukturellen
Voraussetzungen für das Spritzenvergabeprojekt und die Vergabemodi angeht.
Während in Lichtenberg eine ganze Reihe von therapeutischen und psychosozialen
Begleitangeboten existieren, sind derartige Begleitangebote in der Lehrter
Straße weitgehend nicht vorhanden. Allerdings werden die Gefangenen im Rahmen
der Spritzenvergabe durch die Mitarbeiter der Aids‑Hilfe e. V.
betreut.
In
den Hafträumen beider Modellbereiche liegt für jede/n Gefangene/n ein Etui mit
einer Attrappe bzw. nach deren Tausch mit einem sterilen ungebrauchten
Spritzbesteck, das an einem festgelegten Platz aufbewahrt werden muss.
a)
Modellanstalt
Justizvollzugsanstalt für Frauen Berlin
In
der Justizvollzugsanstalt für Frauen erfolgt die Eins-zu-Eins-Spritzenvergabe
über Automaten, die an verschiedenen Standorten der Anstalt aufgestellt wurden.
Im
Durchschnitt waren es 35 weibliche Inhaftierte, denen ein Spritzenbesteckaustausch
auf diesem Wege ermöglicht wurde. Die Automaten sind so konstruiert, dass bei
Einstecken einer gebrauchten Spritze mit Kanüle jeweils eine neue Spritze mit
Kanüle und Desinfektionstupfer ausgegeben wird. Die Gesamtzahl der abgegebenen
Spritzbestecke belief sich während der wissenschaftlich begleiteten Phase des
Modellversuchs in Lichtenberg auf etwa 3.500 (Zeitraum 10/1998 bis 7/2001). Das
needle‑sharing hat abgenommen und Fälle, in denen aufgezogene Spritzen
gefunden wurden, sind bisher nicht bekannt. Allerdings wurden aufgrund von
Manipulationen an den Spritzenautomaten sehr viele „illegale“ Spritzen gefunden.
Stehen
Drogen nicht zur Verfügung, werden mitunter inzwischen auch Medikamente aufgelöst
und intravenös konsumiert. Es sind jedoch weder Fälle bekannt geworden, dass
infizierte Frauen gebrauchte Spritzen weitergereicht haben, noch Vorfälle, bei
denen Spritzen als Waffe missbraucht wurden.
Im
November 1999 wurde bei einer Haftraumkontrolle eine benutzte Spritze ohne
Schutzkappe und ohne Etui in der Schublade einer Inhaftierten entdeckt. Bei der
Übergabe der Spritze an den Haushandwerker erlitt dieser eine Stichverletzung
an der Hand. Der Vorfall war für die Anstaltsleitung in Zusammenarbeit mit der
Begleitforschung und Mitarbeitern der Berliner Aids-Hilfe e. V. Anlass,
das Personal erneut umfassend über den fachgerechten Umgang mit gebrauchten
Spritzen aufzuklären.
Inzwischen
gehört der Spritzenaustausch einerseits zum Alltag, andererseits lehnen nach
wie vor zahlreiche Inhaftierte den Spritzenautomaten und auch die in ihrem Haftraum
befindliche Spritzenattrappe als „Animierung zum Drogenkonsum“ ab.
Die
Spritzenvergabe ist im Bereich Lichtenberg einerseits zu einer Art Normalität geworden
‑ zumal ein großer Teil des Personals Erfahrungen im Umgang mit
Drogenkonsumentinnen besitzt –, andererseits ist es bei dem unauflösbaren
Widerspruch zwischen permanenter Drogenbekämpfung und Tolerierung der
Instrumente zur sterilen Verwendung illegaler Drogen geblieben. Es wird jedoch
darauf geachtet, dass weder der Sozialdienst noch Bedienstete des allgemeinen
Vollzugdienstes, welche die Gefangenen betreuen, aber auch Kontrollaufgaben wahrnehmen,
die Spritzenautomaten auffüllen, um Konfliktsituationen für diese Bediensteten
zu vermeiden.
Nach
wie vor wird bei Drogenfunden Strafanzeige erstattet, dabei ist die Zahl der
Strafanzeigen an sich nicht angestiegen.
Die
Durchführung des Projekts wurde mit dem vorhandenen Anstaltspersonal bewältigt.
Die Kosten für vier Spritzenautomaten betrugen 8.000,00 €. Zur Technik
dieser Automaten ist zu bemerken, dass sie sehr reparaturanfällig sind. Dies
liegt u. a. daran, dass es den Inhaftierten immer wieder gelingt, die
Automaten zu manipulieren, um mehr Spritzen als zulässig zu erhalten.
Für
Verbrauchsmaterialien sind ca. 500,00 € jährlich aufzuwenden. Darin
enthalten sind die Spritzen, aber auch Salbe, Tupfer pp. Die Kosten für die Automaten
und die anderen Materialien werden aus dem Etat der Senatsverwaltung für
Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz beglichen.
b)
Modellanstalt
Justizvollzugsanstalt Plötzensee – Bereich Lehrter Straße –
Die
Justizvollzugsanstalt Plötzensee – im örtlichen Bereich Lehrter
Straße –, war vor Einführung des Modellvorhabens ein drogenarmer Bereich,
in dem demzufolge zunächst keine projektgeeigneten Gefangenen untergebracht
waren. Hier wurden in den ersten Monaten des Modellversuchs zunächst durch
Verlegung von drogenabhängigen Inhaftierten erst einmal die Voraussetzungen für
eine Umsetzung der Spritzenvergabe geschaffen. Da diese Justizvollzugsanstalt
jedoch weder baulich noch konzeptionell auf drogenabhängige Inhaftierte eingerichtet
war, führte deren Verlegung und die in der Folge auftretende Drogenproblematik
zu erheblichen Problemen im Vollzugsalltag, die u. a. Rückverlegungen
einzelner drogenabhängiger Inhaftierter nach Tegel erforderten. Die
Justizvollzugsanstalt Plötzensee erhöhte als Antwort auf diese Probleme den
Sicherheitsstandard.
Die
Spritzenvergabe findet an drei Tagen in der Woche in einem „Hand‑Zu‑Hand‑Vergabeverfahren“
durch Mitarbeiter der Aids‑ Hilfe statt, was persönliche Kontakte und
eine enge Betreuung der Inhaftierten ermöglicht.
Die
Anzahl der Gefangenen, die von der Aids‑Hilfe mit sterilen
Spritzbestecken versorgt wurde, belief sich im Durchschnitt auf 12 bis 15
Gefangene. Im Zeitraum von Februar 1999 bis Juli 2001 wurden insgesamt etwa
4.500 Spritzbestecke getauscht. Der Hand‑Zu‑Hand‑Vergabemodus
an drei Tagen pro Woche führte jedoch zeitweilig zu Engpässen in der
Verfügbarkeit von Spritzbestecken.
Im Verlauf des Projekts ereigneten sich drei
Notfälle sowie ein Todesfall. Ein Inhaftierter nahm sich mit einer Überdosis
Drogen das Leben. Dieser Gefangene, dessen Suizidgefährdung bekannt war, wurde
zuvor intensiv von allen beteiligten Berufsgruppen im Haus 3 betreut.
Es gab keine Zwischenfälle, die zu Verletzungen von
Dienstkräften führten.
Das sich manifestierende Problem, den Drogenhandel
unterbinden zu müssen, die ständigen Vorkommnisse, aber auch eine große Abwehr
der nichtdrogenabhängigen Gefangenen gegen die Spritzenattrappen, belasteten
das Vollzugsklima in diesem Vollzugsbereich erheblich.
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben zwar im
Rahmen des Projektverlaufs zur Normalität im Vollzugsalltag zurückgefunden,
eine Akzeptanz der Spritzenvergabe ist jedoch nach wie vor nicht festzustellen.
Für
die Dauer des Projekts wurden vier zusätzliche Stellen im Krankenpflegedienst
zur Verfügung gestellt. Insoweit sind Personalkosten in Höhe von 775.424,00
Euro entstanden. Die Kosten für Spritzen betragen 3.000 Euro.
2.
Wissenschaftliche Begleitung
Das
Modellprojekt wurde in der Justizvollzugsanstalt für Frauen und der
Justizvollzugsanstalt Plötzensee von Oktober 1998 bzw. Februar 1999 bis Juli
2001 wissenschaftlich evaluiert.
Die
Begleitforschung kommt in ihrem Abschlussbericht vom Oktober 2001 im
Wesentlichen zu folgenden Ergebnissen:
Zu
Beginn der wissenschaftlichen Begleitforschung wurde eine hohe Infektionsrate
mit Hepatitis C festgestellt. Sie umfasste 85 % der Frauen und 77 %
der Männer. Die Rate der bereits HIV‑Infizierten lag bei beiden Geschlechtern
bei 18 %.
Die
während der Begleitforschung erhobenen Daten ergeben keinen Hinweis auf einen
zunehmenden intravenösen Drogenkonsum nach der Einführung der Spritzenvergabe.
Ein Teil der Inhaftierten blieb über den gesamten Beobachtungszeitraum trotz
leicht verfügbarer Drogen und Injektionsbestecke „clean“. Bei den anderen
wurden Schwankungen im Ausmaß des intravenösen Konsums beobachtet, jedoch kein
Trend zu einer Zunahme des Konsums. Auch im Vergleich zu früheren
Haftaufenthalten in Anstalten ohne Vergabe von sterilen Spritzen waren
Verbreitung und Intensität des intravenösen Konsums nicht größer.
Es
gibt jedoch Hinweise, dass in Einzelfällen die ständige Verfügbarkeit steriler
Spritzbestecke die Schwelle zum intravenösen Konsum senkte. So war bei zwei
Frauen während der Haft ein erstmaliger intravenöser Konsum zu konstatieren.
Allerdings injizieren erfahrungsgemäß
einzelne Personen im Justizvollzug auch ohne Spritzenaustauschprogramme
erstmalig Drogen, sei es als einmaliges Experiment, sei es als echter Einstieg
in eine länger andauernde intravenöse Drogenkarriere.
Insgesamt
36 weibliche Inhaftierte, d. h. 40 % der befragten Frauen mit früheren Haftaufenthalten,
gaben an, während der Inhaftierungsperioden intravenös Drogen konsumiert zu
haben. 25, d. h. 69 % dieser Frauen, betrieben während der zurückliegenden
Haftaufenthalte Spritzentausch.
In
der Justizvollzugsanstalt Plötzensee – Bereich Lehrter Straße – berichteten 26,
d. h. 52 % der Männer mit früheren Haftaufenthalten, während dieser
Aufenthalte intravenös Drogen konsumiert zu haben. Von diesen Männern betrieben
20 (77 %) während dieser Haftaufenthalte Spritzentausch.
Bei
der ersten Verlaufsuntersuchung gaben noch acht von 49 (16 %) Frauen an, in den
vergangenen drei Monaten in Haft fremde, bereits gebrauchte Spritzen
benutzt zu haben.
Bei
der zweiten Verlaufsuntersuchung war der Spritzentausch nur noch von einer Frau
praktiziert worden.
In
der Lehrter Straße wurde bei der ersten Verlaufsuntersuchung von einem von 33
Drogenkonsumenten angegeben, innerhalb der vergangenen drei Monate gebrauchte
Spritzen benutzt zu haben. Bei allen weiteren Verlaufsuntersuchungen wurde kein
Spritzentausch mehr berichtet. Neuinfektionen mit HIV und HVB wurden nicht
festgestellt.
Nur acht Gefangene der Justizvollzugsanstalt für
Frauen Berlin wiesen bei der Basisuntersuchung keine Antikörper gegen HCV auf.
Bei einer Frau waren bei der ersten Verlaufsuntersuchung, d. h. nach etwa
drei Monaten, HCV-Antikörper nachweisbar. Die Serokonversionszeit, d. h. der
Zeitraum vom Infektionszeitpunkt bis zum Auftreten von Antikörpern im Blut,
beträgt bei der Hepatitis C zwischen einem Monat und sechs Monaten, in den
meisten Fällen beträgt sie etwa drei bis vier Monate. Bei einer Teilnehmerin
mit Serokonversion ist demnach nach den Feststellungen der Wissenschaftler eine
Ansteckung noch vor der Inhaftierung wahrscheinlich, jedoch auch während der
Inhaftierung nicht ausgeschlossen.
Auch in der
Justizvollzugsanstalt Plötzensee, örtlicher Bereich Lehrter Straße, kamen
Serokonversionen vor. Bei drei von sechs Teilnehmern, die bei der Basiserhebung
bezüglich Hepatitis C seronegativ gewesen waren, ließen sich bei späterer
Verlaufsuntersuchung HCV-Antikörper nachweisen. In zwei Fällen ereigneten sich
die Serokonversionen zwischen der Basisuntersuchung und der ersten Verlaufsuntersuchung.
Die Zeitabstände zwischen diesen beiden Untersuchungen betrugen dabei vier bzw.
sechs Monate. Insoweit muss es ebenfalls offen bleiben, ob sich diese Gefangenen
bereits vor oder erst nach der Aufnahme in die Justizvollzugsanstalt infizierten.
Bei einem
dritten Gefangenen wurden HCV-Antikörper erstmals bei der dritten Verlaufsuntersuchung
nach zehn Monaten nachgewiesen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wurde diese
Infektion während des Vollzugs erworben. Die betreffende Person negierte
Spritzentausch, nicht aber das so genannte „Frontloading“ (Aufteilen der Drogendosis
aus einer Spritze auf mehrere andere) mit unsterilen Spritzbestecken.
Die
Forscher stellten im Übrigen fest, dass die Spritzenvergabe inzwischen bei den
Justizvollzugsanstalten in den Stationsalltag integriert sei. Die Durchführung
habe Routinecharakter und wirke sich nicht störend auf den Anstaltsablauf aus.
Allerdings bemängelten sowohl die Bediensteten als auch die nicht
konsumierenden Inhaftierten, dass keine klare Trennung von drogenabhängigen und
nichtdrogenabhängigen Gefangenen stattfinde. Konsumenten versuchten, Nichtabhängige
in drogenspezifische Aktivitäten, wie z. B. Beschaffung, zu involvieren.
Das
Modellprojekt „Spritzenvergabe im Berliner Justizvollzug“ wird von der
Begleitforschung insgesamt als erfolgreich bewertet. Die wesentlichen Ziele,
eine Senkung infektionsrelevanten Risikoverhaltens durch eine hohe Inanspruchnahme
der sterilen Spritzen und eine möglichst geringe Neuinfektionsrate bezüglich
HIV, HBV und HCV seien erreicht worden.
Die Forscher betonen, dass das Spritzenvergabeprogramm von Angeboten
und Hilfen zum Drogenausstieg begleitet sein sollte. Die Implementierung
solcher begleitender Maßnahmen sei nicht immer einfach, da qualifiziertes
Beratungspersonal und Räumlichkeiten sowie ausreichendes medizinisches
Personal, z. B. für Substitutionsprogramme, benötigt werde, was mit
finanziellem Mehraufwand verbunden sei.
Wegen der Einzelheiten der Begleitforschung und ihrer Ergebnisse wird
auf den Bericht an das Abgeordnetenhaus vom 16. Januar 2002 – Drucksachen 13/210
und 13/490 – Bezug genommen.
III.
Anhörungsrunde der Berliner
Justizvollzugsanstalten, der beteiligten Institutionen und Gremien
Am 27. Februar 2003 fand ein umfassender abschließender
Erfahrungsaustausch zu diesem Thema statt.
Diese Erörterung hat
folgende Ergebnisse gebracht:
1.
Modellanstalten
Die
Justizvollzugsanstalt für Frauen Berlin sprach
sich für die Beibehaltung der Spritzenvergabe aus. Es sei im Übrigen nicht auszuschließen,
dass bei einer Abschaffung der Spritzenvergabe das needle‑sharing wieder
verstärkt betrieben werde und somit die Infektionsgefahr für die Inhaftierten
wieder zunehmen würde.
Demgegenüber
käme aus Sicht des Leiters der Justizvollzugsanstalt
Plötzensee eine Weiterführung der Spritzenvergabe am Standort Lehrter
Straße aufgrund der unter Abschnitt II Ziffer 2. geschilderten Erfahrungen
und Bewertungen nicht in Betracht.
Die
Personalratsvorsitzende dieser Anstalt machte deutlich, dass dieses Projekt
aufgrund von Spannungen und Konflikten nach wie vor eine psychische Belastung
für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieser Anstalt darstelle und der
örtliche Personalrat deshalb gegen die Weiterführung der Spritzenvergabe sei.
2.
Haltung der übrigen
Justizvollzugsanstalten zum Spritzenvergabemodell
Die
anderen Justizvollzugsanstalten Berlins sprachen sich ebenfalls gegen eine
Spritzenvergabe in ihren Bereichen aus.
Der
Leiter der Justizvollzugsanstalt Tegel
wies darauf hin, dass nicht wenige Insassen auf andere Konsumformen ausgewichen
seien, die einen Nadelgebrauch verzichtbar machten. Mit einer Spritzenvergabe
in der Justizvollzugsanstalt Tegel müssten diese alternativen Konsumformen
nicht länger praktiziert werden, und es würde vermehrt intravenös konsumiert
werden. Es sei außerdem eine nicht akzeptable Vorstellung, dass ein Gefangener,
der in der Justizvollzugsanstalt Moabit den körperlichen Entzug hinter sich
gebracht habe, nach seiner Verlegung in die Justizvollzugsanstalt Tegel in
seiner Zelle eine Spritzenattrappe vorfände. Unerträglich sei ihm auch der
Gedanke, dass ein wegen Drogengebrauchs aus dem offenen Vollzug abgelöster
Gefangener sich in der Justizvollzugsanstalt Tegel mit der legalen Möglichkeit
zur Beschaffung von Spritzen konfrontiert sähe. In diesem Falle sei dem
Gefangenen seine Ablösung kaum vermittelbar.
Auch
wären konkrete und konsequente Abgrenzungen von Bereichen, in denen Spritzen
ausgegeben würden und Bereichen, in denen keine Spritzenvergabe durchgeführt
würde, nicht umsetzbar.
Erschwerend
käme hinzu, dass die nach dem Vollstreckungsplan aufzunehmende Gefangenenklientel
in ihrer Zusammensetzung und vor allem wegen des steigenden Anteils
verhaltensauffälliger Strafgefangener schon jetzt teilweise ein hohes
Gefahrenpotential für die Bediensteten darstelle.
Im Übrigen sei sowohl die Anzahl der
Spritzen- und der Heroinfunde als auch der mit dem HIV-Virus infizierten
Gefangenen tendenziell rückläufig:
|
|
Spritzenfunde
in der JVA Tegel |
Heroinfunde
in der JVA Tegel |
|
1999 |
31 |
27 |
|
2000 |
21 |
18 |
|
2001 |
17 |
10 |
|
2002 |
20 |
14 |
|
|
Durchschnittliche
Anzahl der HIV-pos. Gefangenen in der JVA Tegel auf Basis der ¼-jährlichen
Stichtagsmeldungen |
|
1992 |
53 |
|
1993 |
47 |
|
1994 |
52 |
|
1995 |
46 |
|
1996 |
40 |
|
1997 |
35 |
|
1998 |
33 |
|
1999 |
27 |
|
2000 |
27 |
|
2001 |
25 |
|
2002 |
33 |
Hingegen sei die Anzahl der Zurückstellungen
der weiteren Strafvollstreckung gemäß § 35 Betäubungsmittelgesetz (BtMG),
die unter dem Gesichtspunkt „Therapie statt Strafvollzug“ erfolgen, von 89
im Jahre 2001 auf 103 im Jahre 2002 gestiegen.
Eine
Implementierung des Projektes Spritzenausgabe in eine Justizvollzugsanstalt mit
der Größenordnung, den Strukturen und der Belegung, wie sie in der
Justizvollzugsanstalt Tegel vorzufinden sind, ließe sich daher nicht umsetzen.
Der
Vertreter der Justizvollzugsanstalt
Moabit führte aus, dass eine Übertragung des Programms auf seine Anstalt zu
erheblichen Problemen bei der derzeit erfolgreich praktizierten Drogenbekämpfung
führen würde. So spräche sich auch die zuständige Drogenkoordinatorin der
Anstalt gegen eine Spritzenvergabe aus.
Nach
Einschätzung des Psychologischen Dienstes der Justizvollzugsanstalt Moabit
erlebten die drogenabhängigen Untersuchungsgefangenen diese Anstalt als geschützten
drogenfreien Raum, den es zu erhalten gälte. Gerade die Justizvollzugsanstalt
Moabit sei ein Ort, an dem Gefangene versuchten, nach dem Entzug clean zu
bleiben.
Von
den Leitern der Anstalten des offenen
Vollzuges wurde dargelegt, dass für ihre Anstalten eine Installierung der
Spritzenvergabe nicht in Betracht käme. Derartige Maßnahmen würden einen Beleg
für einen Missbrauch der Gefangenen darstellen, was mit dem offenen Vollzug
nicht vereinbar sei. Zwar befänden sich auch in den Anstalten des offenen
Vollzuges einige Inhaftierte mit einer Btm‑Problematik. Bei Drogenkonsum
erfolge jedoch stets eine sofortige Verlegung in den geschlossenen Vollzug. Im
Bereich der Jugendstrafanstalt Berlin
und der Jugendarrestanstalt Berlin
käme eine derartige Maßnahme angesichts des erzieherischen Auftrages ebenso
wenig in Betracht wie in der Justizvollzugsanstalt
Charlottenburg, die als drogenarme Vollzugsanstalt konzipiert ist.
3.
Leiter des Gesundheitswesens
im Berliner Justizvollzug
Der
Leiter des Gesundheitswesens führte aus, dass der Zusammenhang zwischen
intravenösem Drogenkonsum und Infektionsgefahr offenkundig ist. Insofern sei
natürlich die Nutzung neuer steriler Spritzenbestecke infektionsvermeidender
als die gemeinsame Nutzung eines Spritzbesteckes durch mehrere Gefangene und
insofern zu befürworten.
Die
aus der Literatur bekannte hohe Infektionsrate, gerade mit Hepatitis C, habe
sich auch bei den an der Basiserhebung der wissenschaftlichen Begleitforschung
Teilnehmenden bestätigt.
Aus
Mangel an sterilen Spritzen und um das Infektionsrisiko bezüglich HIV,
Hepatitis B und C für sich zu verringern, weichen viele Inhaftierte
inzwischen auf andere Konsumformen aus, die einen Nadelgebrauch verzichtbar
machen (orale Einnahmen, Inhalation). So sei auch die Anzahl der Heroinfunde in
den letzten Jahren tendenziell rückläufig, was Erhebungen in den Berliner Justizvollzugsanstalten
eindeutig belegen.
Der
Leiter des Gesundheitswesens machte darüber hinaus darauf aufmerksam, dass in
den letzten Jahren – unabhängig von dem Spritzenaustauschprojekt – die Zahl der
wegen akuter Hepatitis B und C im Krankenhaus der Berliner Vollzugsanstalten
aufgenommenen Patienten gesunken sei. Auch die Zahl der seit 1985 nachweisbar
in den Berliner Haftanstalten erworbenen HIV‑Infektionen sei „an den Fingern
einer Hand abzuzählen“. Bedeutsam sei hierbei, dass der weitaus größte Teil der
infizierten Gefangenen an dieser Infektion bereits bei der Aufnahme im Vollzug
erkrankt sei. Die meisten an Hepatitis erkrankten Inhaftierten seien dabei
Hepatitis‑Virusträger, nur ein geringer Prozentsatz der Gefangenen
erkranke an einer akuten Hepatitis.
|
|
Akute Hepatitis B |
Akute
Hepatitis C |
|
1992 |
44 |
21 |
|
1993 |
28 |
39 |
|
1994 |
30 |
26 |
|
1995 |
12 |
23 |
|
1996 |
9 |
18 |
|
1997 |
13 |
16 |
|
1998 |
5 |
6 |
|
1999 |
4 |
5 |
|
2000 |
2 |
7 |
|
2001 |
0 |
3 |
|
2002 |
1 |
2 |
|
|
HIV-pos. pro 100 Gefangene auf Basis der
¼-jährlichen Stichtagserhebung |
|
1992 |
2,77 |
|
1993 |
2,55 |
|
1994 |
2,57 |
|
1995 |
2,01 |
|
1996 |
1,92 |
|
1997 |
1,74 |
|
1998 |
1,34 |
|
1999 |
1,27 |
|
2000 |
1,25 |
|
2001 |
1,38 |
|
2002 |
1,35 |
4. Gesamtpersonalrat der Berliner Justiz
Nach Auffassung des Gesamtpersonalrats der Berliner Justiz
sei es Aufgabe des Berliner Justizvollzuges, die Justizvollzugsanstalten
möglichst drogenfrei zu halten. Der Gesamtpersonalrat würde weder eine
Weiterführung des Projektes noch mögliche Übertragungen in andere Anstalten unterstützen.
Dies um so mehr, als sich die Anzahl der nicht steuerbaren, gewaltbereiten
Gefangenen erhöht habe und damit die Gefahr, dass diese Inhaftierten mit
Spritzen Bedienstete bedrohen oder verletzen könnten, gestiegen sei. In Abwägung
einerseits der Sorge um die Gesundheit der Mitarbeiter, der Belastung durch
derartige Projekte im Vollzugsalltag durch zusätzlichen Kontrollaufwand und
andererseits des nach wie vor nicht belegbaren infektionsprophylaktischen
Nutzens sei der Gesamtpersonalrat gegen die Weiterführung des Projektes im
Berliner Justizvollzug.
5. Berliner Vollzugsbeirat
Die Mehrzahl der Mitglieder des Berliner Vollzugsbeirats plädiert für
eine Weiterführung der Spritzenvergabe, allerdings im Rahmen eines Gesamtkonzepts
in geeigneten Vollzugseinrichtungen.
6. Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz
Die Vertreterin der Landesdrogenbeauftragten hielt eine Weiterführung
des Modells in der Justizvollzugsanstalt für Frauen Berlin für sinnvoll, zumal das
dortige Personal bereits über langjährige Erfahrung mit drogenabhängigen
Insassinnen verfüge. Die verschiedenen Bereiche dieser Anstalt seien den
unterschiedlichen Situationen der Frauen, die eine Reihe von externen Angeboten
wahrnehmen könnten, angepasst. So böte es sich hier an, die Infektionsprophylaxe
als eine niedrigschwellige Gesundheits- und Überlebenshilfe für Drogenabhängige
vorzuhalten.
Für die Justizvollzugsanstalt Plötzensee, Bereich Lehrter Straße,
hielte sie eine isolierte Spritzenvergabe ohne Begleitangebote für nicht
sinnvoll. So sei die Installierung zusätzlicher geeigneter Angebote nur zum
Teil gelungen, das dortige Personal sähe nach wie vor die Drogenabhängigen als
eine sehr problematische Gruppe an.
Auch das Angebot der Drogenberatungsstellen für eine 14-tägige offene
Sprechstunde hätte später auf einen vierwöchigen Rhythmus umgestellt werden
müssen, da eine entsprechende Nachfrage ausgesprochen gering gewesen sei.
7. Berliner Aids-Hilfe e. V.
Die Vertreter der Berliner Aids‑Hilfe e. V.
vertraten die Überzeugung, dass die Vergabe von Spritzen nicht zwangsläufig zu
einem Anstieg von Drogenkonsum führe und plädierten daher für eine
Weiterführung des Modells Spritzenvergabe. Ein positiver Aspekt der Spritzenvergabe
sei die Erreichbarkeit von „Usern“. Bei dem Austausch der Spritzenbestecke
entwickelten sich teilweise sehr intensive Gespräche mit den Inhaftierten, bis
hin zu deren Bestreben, „clean“ werden zu wollen.
Allerdings sei
auch aus ihrer Sicht neben der eigentlichen Spritzenvergabe bzw. dem Aufstellen
von Spritzenautomaten stets ein Gesamtkonzept erforderlich, einschließlich
Aufklärung und Schulung der Mitarbeiter des Vollzuges. Auch wenn es eine Vielzahl
von Ausstiegsmöglichkeiten für Drogenabhängige gäbe, hielten sie es für wichtig,
die Weiterführung des Projektes Spritzenvergabe zur Gesunderhaltung der
Inhaftierten zu unterstützen.
IV
Zusammenfassende
Schlussfolgerungen
und weitere
Vorgehensweise
Die Auswertung der Pilotprojekte und ihrer Begleitforschung sowie der abschließenden Erörterungen führen zu folgender Schlussfolgerung:
Das Modellvorhaben ist vor
allem unter dem Blickwinkel der Infektionsprophylaxe für die Gefangenen
gerechtfertigt, nämlich aus der Erwartung, dass durch die Vergabe steriler
Spritzbestecke Infektionen mit HIV und Hepatitiden vermieden werden können.
Es ist einerseits durchaus bemerkenswert, dass ab der zweiten Verlaufsuntersuchung von keinem Spritzentausch mehr berichtet wurde. Es erscheint auch plausibel, dass infektionsrelevantes Risikoverhalten durch die Benutzung steriler Spritzen eingedämmt werden kann. Indessen ist dies nicht zwangsläufig so, wie die Vollzugspraxis, auch in Bundesländern mit ähnlichen Modellprojekten, gezeigt hat. Dort sind Fälle bekannt geworden, in denen auch sterile, im Rahmen der Projekte ausgegebene Spritzen gemeinsam benutzt, verbotswidrig an andere Gefangene weitergegeben oder illegal gehortet worden sind. Dem entspricht der Umstand, dass sich während des hiesigen Modellprojekts mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Gefangener und möglicherweise sogar insgesamt vier Inhaftierte mit Hepatitis C infiziert haben. Da der Infektionsweg jedoch nicht ausschließlich mittels gebrauchter Spritzen verläuft, lässt er sich in diesen Fällen auch nicht ursächlich belegen. Andererseits konnten keine HIV- und Hepatitis B–Neuinfektionen festgestellt werden. Hinzu kommt, dass die Heroinfunde in der Justizvollzugsanstalt Tegel deutlich abgenommen haben, was als Indiz für einen entsprechend nachlassenden Konsum dieses Rauschmittels angesehen werden kann.
Aufgrund einer
flächendeckenden Prophylaxe ist im übrigen unabhängig von dem Projekt bereits
seit vielen Jahren ein erheblicher Rückgang an akuten Hepatitis B- und C- sowie
an HIV-Infektionen unter der Berliner Gefangenenpopulation festzustellen.
Zur Veranschaulichung sei
dies mit nachfolgenden statistischen Schaubildern illustriert:



Folgende
vollzugliche Nachteile, die mit der Spritzenvergabe verbunden sind, sprechen
gegen deren Beibehaltung oder gar Ausdehnung auf andere Bereiche:
An erster Stelle ist nach wie vor der unauflösbare Widerspruch zu nennen, dem die Bediensteten der Justizvollzugsanstalten ausgesetzt sind. Einerseits haben sie den strafbaren Besitz von Drogen und deren Einfuhr zu bekämpfen; zum anderen müssen sie die Spritzbestecke tolerieren, die dem alleinigen Zweck des Drogenkonsums dienen.
Weiterhin ist eine konsequente Trennung von drogenabhängigen und nicht drogenabhängigen Gefangenen aufgrund der vollzuglichen Gegebenheiten nicht möglich. Es ist daher zu befürchten, dass nichtdrogenabhängige Gefangene von den Drogengebrauchern bedrängt werden, anlässlich von Lockerungen oder bei sonstigen Gelegenheiten, Drogen zu beschaffen. Zum anderen könnte sich aus der stetigen Verfügbarkeit sterilen Spritzbestecks eine Versuchungssituation ergeben, der auch bisher nichtdrogengebrauchende Gefangene erliegen könnten, um sich erstmals – scheinbar gefahrlos – Rauschgift injizieren zu können. Allerdings wurden im Bereich der Lehrter Straße keine Neu-Einstiege in den intravenösen Konsum beobachtet. Im Übrigen ist es auch zweifelhaft, ob der erstmalige intravenöse Konsum in der Justizvollzugsanstalt für Frauen tatsächlich auf das Spritzenaustauschprogramm zurückzuführen ist
Bei
der Frage, ob die Spritzenvergabe in der Justizvollzugsanstalt für Frauen
Berlin fortgesetzt werden sollte, ist auch Folgendes zu beachten: es handelt
sich dort um einen relativ kleinen überschaubaren Bereich. Die dortigen
Bediensteten sind erfahren im Umgang mit drogenabhängigen Inhaftierten. Sie
sind in hohem Maße bereit, mit diesen im Rahmen des bestehenden
Drogenbehandlungskonzepts zu arbeiten. Die dortige Spritzenvergabe ist somit in
ein Gesamtkonzept eingebaut. Hierzu gehört auch, dass die inhaftierten Frauen
auf ihren Stationen feste Ansprechpartner verschiedener Drogenberatungsstellen
haben. Die Akzeptanz der Spritzenvergabe durch die Bediensteten einschließlich
der Anstaltsleitung schafft ein Vollzugsklima, in dem die Spritzenvergabe ein
kleiner Mosaikstein im Rahmen eines engen Beziehungsgeflechts sein kann, das
möglicherweise die Bereitschaft zu einem Drogenentzug und einer
-therapie fördern kann.
Die
Spritzenvergabe sollte daher im Bereich der Justizvollzugsanstalt für Frauen
Berlin, örtlicher Bereich Lichtenberg, fortgesetzt werden.
Keiner
dieser Gesichtspunkte gilt hingegen für die Justizvollzugsanstalt Plötzensee –
Bereich Lehrter Straße –, so dass dort die Vergabe sterilen Spritzbestecks nach
Beendigung des über vierjährigen Modellversuchs einzustellen ist.
Auch für eine
etwaige Verlagerung der Spritzenvergabe in andere Justizvollzugsanstalten Berlins
besteht unter den derzeitigen Bedingungen kein Anlass:
Gemäß Nr. 2
Abs. 1 lit. a) der bundeseinheitlichen Verwaltungsvorschriften zu § 10 des
Strafvollzugsgesetzes sind in der Regel erheblich suchtgefährdete Gefangene für
eine Unterbringung im offenen Vollzug ungeeignet, so dass eine Installierung
von Spritzenvergabe im offenen Vollzug ohnehin nicht in Betracht kommt;
angesichts deren erzieherischen Auftrags ebenso wenig im Bereich der
Jugendstrafanstalt und der Jugendarrestanstalt. Auch die Justizvollzugsanstalt
Charlottenburg, die als „drogenarme“ Anstalt konzipiert ist, scheidet aus. Folgerichtig
spricht sich auch keine dieser Anstalten für eine Spritzenvergabe in ihrem
Bereich aus.
Für die
Justizvollzugsanstalt Tegel gilt speziell Folgendes:
Eine
entsprechende Spritzenvergabe würde tatsächlich zu der nicht hinnehmbaren
Versuchungssituation führen, dass ein Gefangener, der in der Justizvollzugsanstalt
Moabit während des Vollzugs der Untersuchungshaft den körperlichen Entzug
hinter sich gebracht hat, nach seiner Verlegung in den dortigen Bereich eine
Spritzenattrappe in seiner Zelle und darüber hinaus möglicherweise
Spritzenautomaten vorfände. Ein wegen Drogengebrauchs aus dem offenen Vollzug
abgelöster Gefangener würde sich in der Justizvollzugsanstalt Tegel mit der legalen
Möglichkeit zur Beschaffung von Spritzen konfrontiert sehen. Diesem Gefangenen
wäre seine Ablösung in der Tat kaum vermittelbar.
Die Vergabe von Spritzen in den Teilanstalten V, VI und der Sozialtherapeutischen Anstalt käme nicht in Frage, da diese Bereiche nur Gefangene mit „Cleannachweis“ aufnehmen. Ähnlich verhält es sich mit dem A- und dem D-Flügel der Teilanstalt III und dem B‑Flügel der Teilanstalt II. Würden jedoch Spritzen nur in Teilbereichen ausgegeben, so wäre ein erheblicher Druck auf die dort untergebrachten Gefangenen zu erwarten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Gefangenen erfahrungsgemäß Mittel und Wege finden würden, um die Spritzen in alle Bereiche zu transportieren.
Hinzu käme eine erhebliche Gefährdung der in der Substituiertenstation in der Teilanstalt II untergebrachten Gefangenen und des dort praktizierten Projekts. Dieses soll die Gefangenen motivieren, Perspektiven für die Zeit nach der Haftentlassung zu entwickeln, sich auf ein Leben jenseits der Drogenszene und der Beschaffungskriminalität vorzubereiten und die Gestaltung ihres Lebens wieder selbst in die Hand zu nehmen. Der Wegfall der Drogenbeschaffung, der Verzicht auf illegale Drogen, der Wegfall der ständigen Eigenverschuldung der Drogenabhängigen und ein dadurch bedingter entspannterer Haftverlauf setzen dabei Kapazitäten frei, die von vielen Gefangenen zu positiven Veränderungen ihres Verhaltens und ihrer bisheriger Lebensgewohnheiten bereits während der Haft genutzt werden. Das Ersatzmittel Methadon kann dabei dauerhaft eingenommen werden. Die Einnahme weiterer Drogen wie etwa der intravenöse Beikonsum von Heroin kann jedoch die Wirkung des Ersatzmittels verstärken und zu gefährlichen Vergiftungserscheinungen mit Atemdepression bis hin zum Atemstillstand führen. Wie auch im Rahmen der medizinischen Begleitforschung des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Hamburg festgestellt wurde, erscheint es daher dringend geboten, nach Strategien zu suchen, die es Methadon-Substituierten erleichtern, ein bestehendes Spritzenaustauschprogramm nicht als jederzeit wirksame Verführung zum Konsum betrachten zu müssen. Eine konsequente Trennung von Substitution und Spritzenaustauschprophylaxe wäre deshalb erforderlich. Diese ließe sich jedoch unter den gegebenen Umständen in der JVA Tegel nicht verwirklichen.
In der Justizvollzugsanstalt Plötzensee erwiesen sich Gefangene mit abgeurteilten groben Gewaltdelikten als problematisch, da diese aggressiven und gewaltbereiten Gefangenen besondere Sicherheitsvorkehrungen erforderten. Letztlich bestand im dortigen Bereich jedoch immer die Möglichkeit der Rückverlegung in die JVA Tegel. Was bereits unter den „klinischen“ Bedingungen eines Modellprojektes als derart latent gefährlich eingeschätzt wird, wird sich unter den realen Bedingungen des geschlossenen Vollzuges der JVA Tegel noch potenzieren. Die nach dem Vollstreckungsplan aufzunehmende Gefangenenklientel sowie der steigende Anteil verhaltensauffälliger Strafgefangener, bei denen allenfalls in Ausnahmefällen die Möglichkeit einer Verlegung besteht, lassen ein hohes Gefahrenpotential für die Bediensteten besorgen.
Angesichts knapper öffentlicher Kassen dürfen auch nicht die erheblichen Kosten, die eine Spritzenvergabe im Bereich der Justizvollzugsanstalt Tegel verursachen würde, unerwähnt bleiben: bei einer Vergabe mittels Spritzenautomaten wäre von jährlichen Kosten in Höhe von 165.000 Euro auszugehen, bei einer „Hand-Zu-Hand-Vergabe“ von über 975.000 Euro.
Auch die Justizvollzugsanstalt Moabit ist ein ungeeigneter Standort für eine Spritzenvergabe im Berliner Justizvollzug.
Nur durch
einen völligen Verzicht auf Drogen lässt sich deren Anspruch als drogenfreie Anstalt
aufrechterhalten. In einer drogenfreien Haftanstalt geht die Spritzenvergabe
ins Leere. Der Einschätzung des dortigen Psychologischen Dienstes, dass die
Drogenabhängigen diese Anstalt als geschützten drogenfreien Raum erleben, den
es zu erhalten gilt, ist uneingeschränkt zuzustimmen.
Die Konzeption der dortigen Teilanstalt III
im Sinne eines nach innen offenen Wohngruppenvollzugs setzt voraus, dass
betäubungsmittelabhängige Gefangene dort keine Aufnahme finden. Die Zulassung
einer Spritzenvergabe könnte nicht nur einen dramatischen Anstieg von
Spritzenfunden, sondern auch ein Scheitern dieses gelockerten Wohngruppenvollzugs
bedeuten. Der Einschätzung der zuständigen Drogenkoordinatorin ist beizutreten.
Dieser Einschätzung stehen auch keine vermeintlichen
Ansprüche der betroffenen Gefangenen entgegen. Insbesondere folgt aus den
§§ 56 ff. des Strafvollzugsgesetzes, welche die Verpflichtung der Vollzugsbehörden
zur Gesundheitsfürsorge regeln, kein Anspruch auf Vergabe steriler Einwegspritzen.
Unter dem Gesichtspunkt der staatlichen Fürsorgepflicht besteht im Strafvollzug
ein Schutz vor Ansteckung nur insoweit, als die Ansteckung im Rahmen der
gesetzlichen Ordnung vermeidbar ist. Das bedeutet jedoch nicht, dass jede nur
denkbare Vorsorge gegen eine mögliche Ansteckung getroffen werden muss.
Mit
dieser eine Spritzenvergabe im Justizvollzug allenfalls sektoral befürwortenden
Haltung steht das Land Berlin nicht allein. Eine Umfrage unter den übrigen
Bundesländern hat ergeben, dass bis auf Hamburg und Niedersachsen alle übrigen
Länder weder Spritzentauschprogramme eingeführt haben noch Projekte dieser Art
planen. Die bereits oben geschilderten vollzuglichen Nachteile werden auch dort
gesehen und führen zu diesem Ergebnis. Hamburg hat das entsprechende Programm
seit über einem Jahr eingestellt. In Niedersachsen läuft die Spritzenvergabe in
zwei Anstalten, allerdings ist auch dort nicht geplant, dieses Verfahren
flächendeckend in allen Anstalten einzuführen.
Ich beabsichtige daher, unter Abwägung und Gewichtung aller angeführten Gesichtspunkte die Vergabe steriler Einwegspritzen lediglich im Bereich der Justizvollzugsanstalt für Frauen Berlin fortzuführen.
Sollte
jedoch in Zukunft unter den Gesichtspunkten der Größe, Struktur, Konzeption,
Belegung und insbesondere der Erfahrung, Motivation und Akzeptanz der
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine geeignete Anstalt für den Vollzug von
Freiheitsstrafen an männlichen Gefangenen in meinem Zuständigkeitsbereich zur
Verfügung stehen, behalte ich mir insoweit die erneute Prüfung einer
Spritzenvergabe vor.
Ich
bitte, den Beschluss damit als erledigt anzusehen.
Berlin, 22. Mai 2003
Karin Schubert
Senatorin für Justiz
Ausschuss-Kennung
: GesSozMiVergcxzqsq